Der kleine Fluechtling
fort, »es ist leider vorgekommen. Und niemand kann mit Sicherheit sagen, wer der Schuldige ist. Im Zug stecken jeden Tag Dutzende von Pendlern, Lehrlinge aus der Zuckerfabrik, Mechaniker vom Rangierbahnhof, sogar Hausierer – alles mögliche Gelichter. Für die Freveltat kommen viele in Frage.«
Ja, las Ulrich aus dem Blick von Dr. Dirs, das mag schon sein, aber ich will Satisfaktion um jeden Preis, und am leichtesten bekomme ich sie über die Schule.
Da erbot sich Ulrich, die Strafe auf sich zu nehmen.
Dr. Dirs sah ihn eine Weile nachdenklich an, dann akzeptierte er. Alles Weitere wolle er lieber mit dem Direktor besprechen, gab er Ulrich daraufhin zu verstehen und entließ ihn.
»Ja kann man noch dümmer sein?«, rief Gerhard, nachdem ihm Ulrich nach seiner Rückkehr in die Schule flüsternd berichtet hatte. »Wer weiß, was dir der Dirs dafür aufbrummen lasst. Und außerdem, da hast deinen Kopf für nix und wieder nix hinghalten. Den Bulli könnens doch eh net brauchen beim Sanitär-Wankel. Die merken sowieso bald, dass er zu allem zu blöd is, und schmeißen ihn raus.« Gerhard stöhnte. »Was machst denn, wenn der Dirs verlangt, dass du von der Schule fliegst? He, was machst denn dann, he? Wartst, bis du dem Bulli seine Lehrstell kriegst? Meine Herrn, bist du ein Hornochs.«
Ulrich fühlte sich kläglich furchtsam, als er kurz vor Schulschluss zum zweiten Mal an diesem Tag vor dem Direktor stand. Gerhards »Was machst denn, wenn …?« kreiste in seinem Kopf.
Der Direktor hatte eine steinerne Miene aufgesetzt, die Lippen aufeinandergepresst und öffnete sie nicht einmal dann, als er Ulrich einen gelben Zettel mit dem Stempel des Direktorats aushändigte.
Ulrich nahm den Wisch entgegen, fasste das steinerne Nicken des Direktors als Entlassungsgeste auf und schlich sich. Erst auf dem Weg zum Bahnhof wurde ihm bewusst, wie glimpflich alles ausgegangen war. Der gelbe Zettel, der nun in seiner Hosentasche steckte, war nichts als ein läppischer Verweis, für den sich nie mehr jemand interessieren würde.
Gut sechs Monate danach bekam Ulrich sein Abschlusszeugnis samt Buchpreis. Er präsentierte beides seinem Vater und äußerte optimistisch seinen Berufswunsch.
»Mecht ich dir solche Flausen gleich austreibn«, polterte Vater Scheller, dass die Hobelspäne stoben und die Leimtöpfchen hüpften. »Keen eener geht mir zu die Flieger bei die Lufthansa. Mechst een anständichen Beruf lernen.«
Ulrich blieb nichts anderes übrig, als sich in das zu fügen, was der Vater unter einem anständigen Beruf verstand. Und so kam es, dass er keine zwei Wochen später von einem mürrischen Heimleiter eine zehnseitige Hausordnung ausgehändigt bekam und daraufhin ein oft geflicktes Laken über eine durchgelegene Matratze in einem schäbigen Wohnheim am Münchner Harras breitete. Am Morgen darauf stieg er in die Trambahn zum Westpark und hielt dort Ausschau nach der Großhandelsfirma Klein & Klein.
Die Gebrüder Klein hatten in der »Passauer Neuen Presse« eine kaufmännische Lehrstelle annonciert, die von Vater Scheller für Ulrich als goldrichtig beurteilt worden war. Auf der anderen Seite hielten die Herren Klein und Klein offenbar Ulrich ebenfalls als goldrichtig für ihr Kontor, denn sie sagten ihm (kaum dass sein Bewerbungsschreiben bei ihnen eingetroffen war) die Stelle zu.
Die Handelsgeschäfte der Kleins befassten sich mit winzigen Kondensatoren und Lötkölbchen. Ulrichs Tätigkeit sollte vorerst darin bestehen, die von einer Spedition in großen Kisten angelieferte Ware stückweise zu verpacken. Tag für Tag tat er nichts anderes, als Tütchen zu füllen. Nachdem seine Aufgabe vier Monate später noch immer keinen Wandel erfahren hatte, entschied er, die ganze Großhandelssache abzublasen.
Er kaufte sich ein Zugbillett nach Deggendorf und kam in den letzten Adventstagen des Jahres 1955 spätabends zu Hause an.
»Wenn schon keine Flugzeuge«, sagte er zu seinem Vater, »dann wenigstens Schiffe.« Unverzüglich setzte er sich an den Küchentisch und verfasste ein Bewerbungsschreiben an die Deggendorfer Werft.
Als Ulrich längst an einem Reißbrett im Zeichenbüro der Werft saß (er hatte eine Lehrstelle als Technischer Zeichner bekommen), konnte man Vater Scheller noch immer schnauben hören. Er schnaubte gut drei Jahre lang, bis Ulrich seine Lehrzeit erfolgreich beendet hatte.
2
Anna Langmoser beobachtete ihre Tochter, wie sie sich vor dem dreiteiligen Spiegel (den sie unbedingt hatte haben wollen) hin
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