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Der kleine Fluechtling

Der kleine Fluechtling

Titel: Der kleine Fluechtling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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auf einer Baustelle herumgetrieben hat. Das C a O dampft dort in einer Grube. Und warum dampft es? Weil es die Maurer mit Wasser vermischt haben – mit H ² O . Wasser verwandelt gebrannten Kalk in C a( OH )², eine Lauge, die der Maurermeister in seinen Mörtel mischt. Er darf sich aber nicht ewig Zeit dazu lassen, weil in der Luft Kohlendioxidmoleküle herumschwirren, auf die das C a( OH )² scharf ist. Sobald der Wind ein Molekülchen CO ² aus der Luft in die Kalkgrube bläst, gibt das erstbeste C a( OH )²-Molekül seinen beiden Wasserstoffatomen und einem der Sauerstoffatome den Laufpass – die drei plätschern wieder als H ² O davon – und liiert sich mit dem CO ². Das Ergebnis heißt Kalkstein, C a CO ³. Ganz einfach – unbestritten.«
    Ebenso simpel erschienen Ulrich die Mathematikaufgaben. Er brauchte selten mehr als zehn Minuten, um Rechnungen zu lösen, für deren Bearbeitung Studienrat Zahn eine volle Stunde vorgesehen hatte. Kaum waren alle Resultate aufs Papier gekritzelt, gab Ulrich das Blatt ab und machte sich davon. Er warf die Schultasche nicht vorher durchs Fenster hinaus, wie er es bei Kuchler in der Neuhofkaserne getan hatte, sondern nahm sie ganz offiziell mit durch die Tür.
    Zahn brauchte Ulrichs Arbeit nicht lange zu prüfen. Ein kurzer, scharfer Blick genügte, um zu wissen, dass sie eine Eins verdient hatte.
    Vom entrüsteten Geschichtslehrer bissig zur Rede gestellt, weshalb er diesem renitenten Bürschchen die Freiheit durchgehen ließ, aus der Klasse zu verschwinden, wann es ihm passte, hatte Zahn geantwortet: »Ich weiß, was flottes, präzises, eigenständiges und unkonventionelles Arbeiten wert ist, ich honoriere es und schränke einen klugen Kopf nicht ein. Mit Rommel in der Wüste haben nur die überlebt, die Grips in der Birne hatten und eigene Entscheidungen trafen.«
    Was das schulische Ghetto der Neuhofkaserne in sechs langen Jahren nicht zustande gebracht hatte, geschah postwendend, als Ulrich und Gerhard Schwarz im Herbst 1952 in die Mittelschule überwechselten: Die Hafenbande zerbröselte wie ein trockener Keks.
    Sabe und Bulli blieben im darauffolgenden Volksschuljahr sitzen, weil die rettenden Kügelchen mit den gelösten Rechenaufgaben ausblieben.
    »Der Gripskopf«, hatte Bulli in den zuletzt gemeinsam verbrachten Sommerferien einmal gefragt, »warum geht denn der nicht gleich in die Oberschul? Die tät der doch leicht packen, so gscheit, wie er is, der Gripskopf.« Obgleich Ulrich neben ihm stand, hatte sich Bulli an Gerhard gewandt.
    »Weil er daheim keinen Geldscheißer hat«, hatte er zur Antwort bekommen.
    Bulli hatte daraufhin nur verständnislos in die Runde und letztendlich zu Ulrich hinübergeschaut, der jedoch Bullis Frage als ausreichend beantwortet betrachtete und seine Aufmerksamkeit einem Stück Feinblech schenkte, weshalb sich Gerhard, der Chef, zu einer Erklärung herbeiließ.
    »Meinst du vielleicht, dass ein böhmischer Schreiner, der wo in einer ausrangierten Blechbaracken wohnt, seine Buben durchfuttern kann, bis sie ein Diplom in der Taschen ham? Das kann der net. Der muss schaun, dass ganz schnell was aus denen wird, egal, was die alles …«
    »Aber der Gripskopf kann doch so saumäßig gut rechnen«, hatte Bulli insistiert.
    »Genau«, hatte ihm Gerhard zugestimmt, »und weil er’s gar so gut kann, schickt ihn sein Vater eh auf die Mittelschul. Das kommt den Scheller gwiss hart genug an. Und wenn er net seit Lichtmess in der Schreinerei Mohring Arbeit hätt, wär’s sowieso unmöglich.«
    Bald nach diesem Gespräch hatte es auf ganzer Wegeslänge zwischen der Pferdemetzgerei Fenzl und der Brauerei Keisling zu munkeln begonnen, dass die Schellers den Gestank ihrer Nissenhütte bald zurücklassen würden.
    »Der Mohring, der hat dem Scheller für etliche Monat den Lohn vorgstreckt.«
    »Für wasn? Für wasn?«
    »Für die Wohnbaugenossenschaft, die wo einen Wohnblock baut, draußen aufm Baggerfeld.«
    »Jetz derraufen sich die Flüchtling Boden unter die Füß!«
    »Wenn einer tüchtig is, warum nachher net?«
    »Baggerfeld« nannten die Deggendorfer das Terrain, das zurückgeblieben war, nachdem das Stadtbauamt an der Ruselstraße etliche Kilotonnen Erdreich für den Bau der Bogenbach-Dämme abgegraben hatte. Als Folge davon lag das Areal nun gut vier Meter unter dem Niveau der Ruselstraße. Dafür floss der Bogenbach bereits den zweiten Frühling gut eingedämmt dahin und überschwemmte außerhalb seines Bettes kein Hälmchen mehr. Das

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