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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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gewesen, dass Edie die Kissenbezüge an einen wohltätigen Verein schickte (»Sei nicht albern, Harriet. Was um alles in der Welt willst du denn damit?«), obwohl sie sie behalten wollte.
    »Ich weiß, dass sie dir gefallen«, murmelte Adelaide mit vor Selbstmitleid bebender Stimme und beugte sich herunter, um Harriet einen theatralischen Kuss zu geben, während Tat und Edie hinter ihrem Rücken Blicke austauschten. »Eines Tages,
wenn ich nicht mehr bin, wirst du vielleicht froh sein, dass du sie hast.«
    »Die ganz Kleine«, sagte Chester zu Ida, »die hat gern Streit.«
    Edie, die selbst nichts gegen einen handfesten Streit einzuwenden hatte, fand in ihrer jüngsten Enkelin einen ebenbürtigen Gegner. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb waren die beiden gern zusammen, und Harriet verbrachte viel Zeit drüben im Haus ihrer Großmutter. Edie beschwerte sich oft über Harriets Halsstarrigkeit und ihre schlechten Manieren und murrte darüber, dass sie ihr dauernd in die Quere kam, aber so sehr sie ihr auch auf die Nerven ging, zog Edie Harriets Gesellschaft der Allisons vor, die sehr wenig zu sagen hatte. Sie hatte Harriet gern um sich, auch wenn sie es niemals zugegeben hätte, und wenn sie nachmittags einmal nicht kam, vermisste sie sie.
    Die Tanten liebten Harriet, aber ihre stolze Art beunruhigte sie. Sie war ihnen zu geradeheraus. Sie wusste nichts von Zurückhaltung oder Diplomatie, und in dieser Hinsicht ähnelte sie Edie mehr, als es jener klar war.
    Vergebens versuchten die Tanten, ihr Höflichkeit beizubringen. »Aber verstehst du denn nicht, Liebling«, sagte Tat, »dass es, wenn du keinen Früchtekuchen magst, immer noch besser ist, ihn zu essen, als deine Gastgeberin zu kränken?«
    »Aber ich mag keinen Früchtekuchen.«
    »Das weiß ich, Harriet. Deshalb habe ich dieses Beispiel ja benutzt.«
    »Aber Früchtekuchen ist grässlich. Ich kenne niemanden, der ihn mag. Und wenn ich ihr sage, dass ich ihn mag, wird sie ihn mir immer wieder anbieten.«
    »Ja, Schatz, aber darum geht es nicht. Wenn jemand sich die Mühe gemacht hat, etwas für dich zu backen, dann ist es gutes Benehmen, es auch zu essen – darum geht es.«
    »Aber in der Bibel steht, man soll nicht lügen.«
    »Das ist etwas anderes. Das hier ist eine Notlüge. In der Bibel ist eine andere Art Lüge gemeint.«
    »In der Bibel steht nichts von Notlügen und anderen Lügen. Da steht nur Lügen.«
    »Glaub mir, Harriet. Es stimmt, Jesus sagt, wir sollen nicht lügen, aber das bedeutet nicht, dass wir unhöflich gegen unsere Gastgeberin sein sollen.«
    »Jesus sagt überhaupt nichts über unsere Gastgeberin. Er sagt nur, dass Lügen eine Sünde ist. ›Der Teufel ist ein Lügner und der Fürst der Lügen.‹«
    »Aber Jesus sagt auch: ›Liebe deinen Nächsten‹, nicht wahr?« Begeistert sprang Libby für die sprachlose Tat in die Bresche. »Ist damit nicht deine Gastgeberin gemeint? Deine Gastgeberin ist doch auch deine Nächste.«
    »Das stimmt«, sagte Tat erfreut. »Damit will allerdings niemand sagen«, beeilte sie sich hinzuzufügen, »dass deine Gastgeberin unbedingt der nächste Mensch auf Erden für dich ist. ›Liebe deinen Nächsten‹ heißt nur, du sollst essen, was man dir anbietet, und höflich sein.«
    »Ich verstehe nicht, wieso ich, wenn ich meinen Nächsten liebe, ihm sagen muss, dass ich gern Früchtekuchen esse, wenn ich keinen mag.«
    Niemand, nicht einmal Edie, hatte eine Ahnung, wie man dieser finsteren Pedanterie begegnen sollte. Es konnte stundenlang so gehen, und es half nichts, wenn man sich den Mund fransig redete. Und noch aufreizender war der Umstand, dass Harriets Argumenten, so lächerlich sie auch waren, in den meisten Fällen eine mehr oder minder solide biblische Basis zugrunde lag. Edie ließ sich davon nicht beeindrucken. Sie leistete zwar Wohltätigkeits- und Missionarsarbeit und sang im Kirchenchor, aber sie glaubte nicht ernsthaft, dass jedes Wort in der Bibel wahr sei – ebenso wenig, wie sie im Grunde ihres Herzens wirklich glaubte, was zu ihren Lieblingsredensarten gehörte: dass zum Beispiel alles, was passiere, stets zum Besten sei oder dass Neger tief im Innern genau die gleichen Menschen seien wie die Weißen. Aber die Tanten, vor allem Libby, waren manchmal beunruhigt, wenn sie allzu sehr über das nachdachten, was Harriet sagte. Ihre Sophismen gründeten unbestreitbar in der Bibel, aber sie standen im Widerspruch zum gesunden Menschenverstand und zu allem, was richtig war. »Vielleicht«,

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