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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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sagte Libby voller Unbehagen, als
Harriet zum Essen nach Hause marschiert war, »vielleicht sieht der Herr wirklich keinen Unterschied zwischen einer Notlüge und einer bösen Lüge. Vielleicht sind sie in Seinen Augen alle böse.«
    »Aber Libby.«
    »Vielleicht braucht es ein kleines Kind, um uns daran zu erinnern.«
    »Ich komme lieber in die Hölle«, blaffte Edie, die bei dem vorausgegangenen Wortwechsel nicht dabei gewesen war, »als dass ich dauernd herumlaufe und alle in der Stadt wissen lassen, was ich über sie denke.«
    »Edith!«, riefen alle ihre Schwester wie aus einem Munde.
    »Edith, das meinst du nicht ernst!«
    »Doch. Und es ist mir auch egal, was alle in der Stadt über mich denken.«
    »Ich kann mir nicht vorstellen, was du getan hast, Edith«, sagte die selbstgerechte Adelaide, »dass du davon ausgehst, alle denken so schlecht über dich.«
    Libbys Hausmädchen Odean, die tat, als sei sie schwerhörig, hörte sich das alles gleichmütig an, während sie für das Abendessen der alten Damen ein Hühnerragout und weiche Brötchen aufwärmte. In Libbys Haus passierte nicht viel Aufregendes, und die Unterhaltung wurde meist ein wenig hitziger, wenn Harriet zu Besuch da war.
    Im Gegensatz zu Allison, die von anderen Kindern irgendwie akzeptiert wurde, ohne dass sie genau wussten, warum, war Harriet ein rechthaberisches kleines Mädchen und nicht sonderlich beliebt. Die Freundschaften jedoch, die sie hatte, waren nicht lau oder beiläufig wie bei Allison. Ihre Freunde waren überwiegend Jungen, meistens jünger als sie und ihr fanatisch ergeben, und sie fuhren nach der Schule mit dem Fahrrad durch die halbe Stadt, um sie zu sehen. Sie mussten »Kreuzzug« und »Johanna von Orleans« mit ihr spielen; sie mussten sich in Bettlaken hüllen und Szenen aus dem Neuen Testament mit ihr aufführen, bei denen sie selbst die Rolle Jesu übernahm. Das Letzte Abendmahl war ihr Lieblingsstück. Dabei saßen sie alle ä la Leonardo auf einer Seite des Picknicktisches
unter der muskattraubenberankten Pergola in Harriets Garten und warteten eifrig auf den Augenblick, da Harriet  – nachdem sie eine letzte Mahlzeit aus Ritz-Crackers und Fanta aufgetischt hatte – sich am Tisch umschaute und jeden Jungen nacheinander ein paar Sekunden lang mit eisigem Blick fixierte. »Und doch wird einer von euch«, sagte sie mit einer Ruhe, die sie alle erbeben ließ, »wird einer von euch mich noch heute Nacht verraten.«
    »Nein! Nein!«, quiekten sie dann entzückt, auch Hely, der Junge, der den Judas gab, aber Hely war auch Harriets Liebling und durfte nicht nur den Judas spielen, sondern auch alle anderen besseren Apostel: Johannes, Lukas, Simon Petrus. »Niemals, Meister!«
    Dann kam die Prozession zum Garten Gethsemane, der im tiefen Schatten unter dem schwarzen Tupelobaum in Harriets Garten lag. Hier war Harriet in ihrer Rolle als Jesus gezwungen, sich die Gefangennahme durch die Römer gefallen zu lassen  – eine gewaltsame Gefangennahme, wüster als die Version des Evangeliums –, und das war schon aufregend genug, aber die Jungen liebten Gethsemane besonders, weil es unter dem Baum gespielt wurde, an dem ihr Bruder ermordet worden war. Die meisten von ihnen waren noch nicht auf der Welt gewesen, als der Mord geschehen war, aber die Geschichte kannten sie alle, hatten sie sich zusammengesetzt aus Bruchstücken der Gespräche ihrer Eltern und den grotesken Halbwahrheiten, die ältere Geschwister in dunklen Schlafzimmern tuschelnd verbreiteten, und der Baum warf seinen reich gefärbten Schatten über ihre Fantasie, seit ihre Kindermädchen sich an der Ecke der George Street zum ersten Mal über sie gebeugt, ihre Hände umfasst und ihnen als Babys unter gezischelten Warnungen diesen Baum gezeigt hatten.
    Die Leute fragten sich, warum der Baum noch stand. Alle fanden, man hätte ihn fällen sollen – nicht nur Robins wegen, sondern auch, weil er vom Wipfel her abstarb; melancholisch graue Äste ragten wie gebrochene Knochen aus dem unansehnlichen Laub, als sei er vom Blitz versengt worden. Im Herbst leuchtete er in wütendem Rot und sah dann einen oder
zwei Tage lang hübsch aus, bevor er jäh alle seine Blätter abwarf und nackt dastand. Wenn die neuen Blätter kamen, waren sie glänzend und ledrig und so dunkel, dass sie beinahe schwarz erschienen, und sie warfen einen so tiefen Schatten, dass darunter kaum Gras wuchs. Außerdem war der Baum zu groß und stand zu dicht am Haus; es brauchte nur einmal ein hinreichend

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