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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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lange –, bis eine barmherzige Lehrerin schließlich gemerkt hatte, was da vorging, und der Sache ein Ende machte.
    Harriet dagegen, vielleicht wegen ihres aggressiveren Charakters, möglicherweise aber auch nur, weil ihre Klassenkameraden zu jung waren, um sich an den Mord zu erinnern, war solchen Verfolgungen entgangen. Die Tragödie in ihrer Familie warf einen unheimlichen Glanz auf sie, den die Jungen unwiderstehlich fanden. Sie sprach häufig von ihrem toten Bruder, und dann mit einem seltsam halsstarrigen Eigensinn, der nicht nur durchblicken ließ, dass sie Robin gekannt hatte, sondern auch, dass er noch lebte. Immer wieder ertappten die Jungen sich dabei, dass sie Harriets Hinterkopf oder ihr Profil anstarrten, und manchmal erschien es ihnen, als wäre sie Robin  – ein Kind wie sie, das aus dem Grab zurückgekehrt war und Dinge wusste, die sie nicht wussten. Durch Harriets Augen lag der stechende Blick ihres toten Bruders auf ihnen, übertragen durch die Rätsel der Blutsverwandtschaft. Tatsächlich bestand, wenngleich das keinem von ihnen klar war, kaum Ähnlichkeit zwischen ihr und ihrem Bruder, nicht einmal auf Fotos. Flink, hell, schlüpfrig wie ein kleiner Fisch, war er das genaue Gegenteil von Harriet mit ihrer brütenden Art und ihrer hochfahrenden Humorlosigkeit, und es war allein die Stärke ihres eigenen Charakters, die die Jungen in ihren Bann schlug, nicht Robin.
    Die Jungen sahen wenig Ironie und keine Parallelen zwisehen
der Tragödie, die da im Dunkel unter dem schwarzen Tupelobaum zur Aufführung kam, und der Tragödie, die zwölf Jahre zuvor dort stattgefunden hatte. Hely hatte alle Hände voll zu tun, denn als Judas Ischariot musste er Harriet an die Römer ausliefern, aber (als Simon Petrus) hatte er auch dem Hauptmann zu ihrer Verteidigung ein Ohr abzuschlagen. Erfreut und nervös zählte er die dreißig Erdnüsse ab, für die er seinen Erlöser verraten würde, und während die anderen Jungen ihn bedrängten und stießen, befeuchtete er sich die Lippen mit einem Extraschluck Fanta. Um Harriet zu verraten, musste er sie auf die Wange küssen. Einmal hatte er sie, angestachelt von den anderen Aposteln, mitten auf den Mund geküsst. Die Strenge, mit der sie diesen Kuss abgewischt hatte – voller Verachtung fuhr sie sich mit dem Handrücken über den Mund – , hatte ihn noch heftiger erschauern lassen als der Kuss an sich.
    Die lakenverhüllten Gestalten Harriets und ihrer Apostel waren eine gespenstische Erscheinung für die Nachbarschaft. Manchmal, wenn Ida Rhew durch das Fenster über dem Spülbecken hinausschaute, erschrak sie über die seltsame kleine Prozession, die sich da so ingrimmig über den Rasen schlängelte. Sie sah nicht, dass Hely beim Gehen seine Erdnüsse befingerte, sah auch seine grünen Turnschuhe unter dem Gewand nicht, und sie hörte nicht, wie die anderen Jünger erbost untereinander tuschelten, weil sie ihre Schreckschusspistolen nicht hatten mitnehmen dürfen, um Jesus damit zu verteidigen. Die Reihe der kleinen, weiß verhüllten Gestalten, deren Lakengewänder über das Gras schleiften, weckte in ihr das gleiche Gefühl von Neugier und Vorahnung, das sie vielleicht auch als Waschfrau in Palästina empfunden hätte, wenn sie, die Arme bis an die Ellenbogen im schmutzigen Brunnenwasser, im warmen Zwielicht des Passah innegehalten hätte, um sich mit dem Handrücken über die Stirn zu fahren und einen Augenblick lang verwirrt die dreizehn Kapuzengestalten anzustarren, die da vorüberschwebten, die staubige Straße hinauf zu dem ummauerten Olivenhain auf dem Gipfel der Anhöhe – die Bedeutung dieses Ganges ersichtlich an ihrer
gemessenen, würdevollen Haltung, aber sein Anlass unergründlich: ein Begräbnis vielleicht? Ein Krankenbesuch, eine Gerichtsverhandlung, eine religiöse Feier? Irgendetwas Aufwühlendes, was immer es sein mochte – genug, um ihre Aufmerksamkeit für einen oder zwei Augenblicke in Anspruch zu nehmen, aber dann würde sie sich wieder ihrer Arbeit zuwenden, ohne zu wissen, dass die kleine Prozession auf dem Weg zu einem Ereignis war, das aufwühlend genug war, um der Geschichte eine neue Wendung zu geben.
    »Wieso spielt ihr bloß immer unter diesem scheußlichen alten Baum?«, fragte sie, als Harriet hereinkam.
    »Weil es die dunkelste Stelle im Garten ist«, sagte Harriet.

    Sie beschäftigte sich, seit sie klein war, mit Archäologie: mit indianischen Grabhügeln, verfallenen Städten, vergrabenen Dingen. Ihre Neugier war von

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