Der kleine Freund: Roman (German Edition)
starker Sturm zu kommen, hatte der Baumchirurg zu Charlotte gesagt, und eines Morgens werde sie aufwachen, weil der Baum durch ihr Schlafzimmerfenster gekracht sei (»von dem kleinen Jungen gar nicht zu reden«, hatte er noch zu seinem Partner gesagt, als er wieder in seinen Laster kletterte und die Tür zuschlug. »Wie kann die arme Frau Morgen für Morgen beim Aufwachen in den Garten schauen und dieses Ding sehen?«). Mrs. Fountain hatte sich sogar erboten, für die Kosten aufzukommen, wenn der Baum gefällt werde, und sie hatte taktvoll auf die Gefahr hingewiesen, die er für ihr eigenes Haus darstellte. Das war schon außergewöhnlich, denn Mrs. Fountain war so geizig, dass sie ihre alte Alufolie spülte, zusammenrollte und wieder benutzte. Aber Charlotte schüttelte nur den Kopf. »Nein danke, Mrs. Fountain«, sagte sie in einem so unbestimmten Ton, dass Mrs. Fountain sich fragte, ob sie vielleicht missverstanden worden sei.
»Ich habe gesagt«, wiederholte sie schrill, »dass ich dafür bezahlen werde! Ich mach’s gern! Er ist auch eine Gefahr für mein Haus, und wenn ein Tornado kommt, und ...«
»Nein danke.«
Sie schaute Mrs. Fountain nicht an, schaute nicht einmal den Baum an, wo das Baumhaus ihres toten Sohnes auf einer morschen Astgabel einsam verrottete. Sie schaute über die Straße hinweg, vorbei an dem Brachgrundstück, wo hoch Lichtnelken und Rispenhirse standen, und bis hin zu den Bahngleisen, die sich in der Ferne trostlos an den rostigen Dächern von Niggertown vorbeizogen.
»Hören Sie«, fuhr Mrs. Fountain mit veränderter Stimme fort, »hören Sie, Charlotte. Sie glauben, ich wüsste es nicht, aber ich weiß, wie es ist, wenn man einen Sohn verliert. Aber es ist Gottes Wille, und Sie müssen es einfach akzeptieren.«
Durch Charlottes Schweigen ermuntert, sprach sie weiter. »Außerdem war er nicht Ihr einziges Kind. Sie haben doch wenigstens noch die andern. Der arme Lynsie dagegen – er war alles, was ich hatte. Kein Tag vergeht, ohne dass ich an den Morgen denke, an dem ich erfuhr, dass sein Flugzeug abgeschossen worden war. Wir waren gerade bei den Weihnachtsvorbereitungen; ich stand in Nachthemd und Morgenrock auf der Leiter und wollte einen Mistelzweig am Kronleuchter befestigen, als ich es vorn klopfen hörte. Porter, Gott hab ihn selig, es war nach seinem ersten Herzinfarkt, aber vor seinem zweiten...«
Ihre Stimme brach, und sie warf Charlotte einen Blick zu. Aber Charlotte war nicht mehr da. Sie hatte sich abgewandt und wanderte zurück zum Haus.
Seitdem waren Jahre vergangen, und der Baum stand immer noch, und immer noch verrottete Robins Baumhaus in seiner Krone. Mrs. Fountain war jetzt nicht mehr so freundlich, wenn sie Charlotte begegnete. »Sie kümmert sich kein bisschen um die beiden Mädchen«, sagte sie zu den Damen unten bei Mrs. Neely, wenn sie sich die Haare machen ließ. »Und das Haus ist voll gestopft mit Müll. Wenn man durch die Fenster guckt, stapeln sich die Zeitungen fast bis unter die Decke.«
»Ich frage mich«, sagte die fuchsgesichtige Mrs. Neely und schaute Mrs. Fountain in die Augen, während sie nach dem Haarspray griff, »ob sie nicht hin und wieder auch ein Gläschen trinkt?«
Es kam oft vor, dass Mrs. Fountain von ihrer Veranda aus Kinder anschrie, und die Kinder rannten weg und erfanden Geschichten über sie: Sie entführe (und fresse) kleine Jungen, und ihr preisgekröntes Rosenbeet sei mit ihren zermahlenen Knochen gedüngt. Die Nähe zu Mrs. Fountains Haus des Schreckens machte die Aufführung der Gefangennahme im Garten Gethsemane noch aufregender. Aber wenn es den Jungen auch manchmal gelang, sich gegenseitig mit Mrs. Fountain Angst einzujagen, so brauchten sie dies, was den Baum anging, überhaupt nicht zu versuchen: Irgendetwas in seinen Konturen bereitete ihnen Unbehagen; die drückende Düsternis
seines Schattens, nur wenige Schritte abseits des hellen Rasens und doch endlos weit davon entfernt, war beunruhigend, selbst wenn man nichts von seiner Geschichte wusste. Es war unnötig, einander daran zu erinnern, was geschehen war, denn das tat der Baum selbst. Er hatte seine eigene Macht, seine eigene Finsternis.
Wegen Robins Tod war Allison in den ersten Schuljahren grausam geneckt worden (»Mommy, kann ich draußen mit meinem Bruder spielen?« »Auf keinen Fall, du hast ihn diese Woche schon dreimal ausgegraben!«) Sie hatte diese Hänseleien in demütigem Schweigen ertragen – niemand wusste genau zu sagen, wie oft oder wie
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