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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Böhmen. Er war nicht einmal aus Kristall. Die Mutter des Richters hatte ihn bei Montgomery Ward bestellt.) Und ihr war erst recht nicht klar, dass sie im Laufe ihrer Bestrebungen immer wieder über gewisse bescheidene, verstaubte Fragmente hinwegtrampelte, hin und her, die ihr, hätte sie sich die Mühe gemacht, sie zu untersuchen, den wahren – und ziemlich enttäuschenden  – Schlüssel zu dem ganzen Gebäude offenbart hätten. Das mächtige, donnernd opulente »Drangsal«, das sie in ihrer Vorstellung so mühselig rekonstruiert hatte, war nicht die Nachbildung irgendeines Hauses, das es je gegeben hatte, sondern eine Chimäre, ein Märchen.
    Harriet brachte ganze Tage damit zu, das alte Fotoalbum zu studieren, das sich in Edies Haus befand (einem Haus, das Welten von »Drangsal« entfernt war, einem Drei-Zimmer-Bungalow aus den vierziger Jahren). Da war die dünne, schüchterne Libby, das Haar straff nach hinten gekämmt, farblos und jüngferlich schon mit achtzehn: Mund und Augen hatten etwas von Harriets Mutter (und von Allison). Als Nächstes die geringschätzige Edie – neun Jahre alt, eine Stirn wie eine Gewitterwolke, die mit ihrem Gesichtsausdruck eine kleine Version ihres Vaters abgab, der finster blickend hinter ihr stand. Eine seltsame, mondgesichtige Tat, ausgestreckt in einem Korbsessel. Auf dem Schoß der verschwommene Schatten eines Kätzchens, unkenntlich. Baby Adelaide, die drei Ehemänner überleben sollte, lachte in die Kamera. Sie war die Hübscheste der vier, und auch sie hatte etwas an sich, das an Allison erinnerte, aber schon zeigte sich ein nörgelnder Zug an ihren Mundwinkeln. Auf den Stufen vor dem zum Untergang verurteilten Haus die holländischen Fliesen mit der Aufschrift CLEVE: gerade noch erkennbar und auch nur, wenn man genau hinschaute, aber sie waren das Einzige auf dem Foto, das sich unverändert erhalten hatte.
    Harriets Lieblingsfotos waren die, auf denen ihr Bruder zu sehen war. Edie hatte die meisten davon gemacht, und weil es so schmerzlich war, sie anzuschauen, hatte man sie aus dem Album genommen und bewahrte sie separat auf; sie lagen auf einem Bord in Edies Wandschrank in einer herzförmigen Pralinenschachtel.
Als Harriet mit ungefähr acht Jahren darauf stieß, war dies ein archäologischer Fund vom Rang der Entdeckung des Tutenchamun-Grabes.
    Edie hatte keine Ahnung, dass Harriet die Bilder gefunden hatte und dass sie der Hauptgrund dafür waren, weshalb Harriet so viel Zeit bei ihr zu Hause verbrachte. Mit einer Taschenlampe ausgerüstet, hockte Harriet hinten in Edies muffigem Wandschrank hinter den Röcken von Edies Sonntagskostümen und betrachtete sie; manchmal schob sie die Schachtel in ihren Barbie-Koffer und nahm sie mit hinaus in Edies Werkzeugschuppen, wo ihre Großmutter, froh, wenn ihr Harriet nicht im Weg stand, sie ungestört spielen ließ. Ein paarmal hatte sie die Fotos auch schon über Nacht mit nach Hause genommen. Einmal, als ihre Mutter schon im Bett war, zeigte sie sie Allison. »Schau«, sagte sie, »das ist unser Bruder.«
    Auf Allisons Gesicht breitete sich fast so etwas wie Angst aus, als sie die offene Schachtel anstarrte, die Harriet ihr auf den Schoß gelegt hatte.
    »Na los. Sieh sie dir an. Auf einigen bist du auch.«
    »Ich will nicht«, sagte Allison; sie drückte den Deckel auf die Schachtel und schob sie zu Harriet zurück.
    Es waren Farbfotos, verblichene Abzüge mit rosa angelaufenen Rändern, klebrig und eingerissen, wo man sie aus dem Album gelöst hatte. Sie waren mit Fingerabdrücken beschmiert, als hätte jemand sie oft in der Hand gehabt. Auf die Rückseite einiger Fotos hatte man schwarze Katalognummern gestempelt, weil die Bilder bei den polizeilichen Ermittlungen benutzt worden waren, und auf ihnen fanden sich die meisten Fingerabdrücke.
    Harriet wurde nie müde, sie anzuschauen. Die Abzüge waren blaustichig, unirdisch, und die Farben waren mit dem Alter noch seltsamer und zaghafter geworden. Die traumerleuchtete Welt, auf die sie ihr einen Blick eröffneten, war magisch, in sich geschlossen, unwiederbringlich. Da war Robin bei einem Nickerchen mit seinem orangegelben Kätzchen Weenie. Hier tollte er auf großen Säulenveranden von »Drangsal«, schrie prustend vor Lachen in die Kamera. Da machte er
Seifenblasen mit einem Schälchen Lauge und einem Röhrchen. Da war er ganz ernst in einem gestreiften Pyjama, da in seiner Pfadfinderuniform, die Knie durchgedrückt, begeistert von sich selbst. Hier war er viel

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