Der kleine Freund: Roman (German Edition)
verstecken.«
»Edith!«
»Edith, das ist nicht recht. Da war er krank. Nachdem er doch zu uns allen so gut war!«
»Ich sage nicht, dass Daddy kein guter Mann war, Tatty. Ich sage nur, dass ich diejenige war, die für ihn sorgen musste.«
»Mich hat Daddy immer erkannt«, sagte Adelaide eifrig; sie war die Jüngste und, wie sie glaubte, der Liebling ihres Vaters gewesen. Niemals ließ sie sich eine Gelegenheit entgehen, ihre Schwestern daran zu erinnern. »Er wusste bis zum Schluss, wer ich war. An dem Tag, als er starb, nahm er meine Hand und sagte: ›Addie, Honey, was haben sie mit mir gemacht?‹ Ich
weiß nicht, warum um alles in der Welt ich die Einzige war, die er erkannte. Wirklich sehr komisch.«
Harriet schaute sich sehr gern Tats Bücher an, zu denen nicht nur die Atlantis-Bände gehörten, sondern auch etabliertere Werke wie Gibbon und Ridpaths History sowie eine Anzahl von Paperback-Liebesromanen, die in der Antike spielten und bunte Bilder von Gladiatoren auf dem Cover hatten.
»Das sind natürlich keine historischen Werke«, erklärte Tat. »Das sind nur leichte kleine Romane mit historischem Hintergrund. Aber es sind sehr unterhaltsame Bücher, und lehrreich sind sie auch. Ich habe sie immer den Kindern auf der High School gegeben, um sie für die Römerzeit zu interessieren. Mit den Büchern, die sie heutzutage alle schreiben, könnte man das wahrscheinlich nicht mehr tun, aber das sind saubere kleine Romane, nicht der Schund, den es heute gibt.« Sie wanderte mit einem knochigen Zeigefinger, die Knöchel arthritisch geschwollen, über die identischen Buchrücken. »H. Montgomery Storm. Ich glaube, er hat auch Bücher über die Regency-Periode geschrieben, unter einem Frauennamen, an den kann ich mich aber nicht mehr erinnern.«
Harriet interessierte sich überhaupt nicht für die Gladiatorenromane. Für sie waren das Liebesgeschichten in römischer Kostümierung, und sie konnte nichts ausstehen, was mit Liebe oder Romantik zu tun hatte. Das liebste unter Tats Büchern war ihr ein mächtiger Band mit dem Titel Pompeji und Herculaneum: Die vergessenen Städte, illustriert mit farbigen Stichen.
Und auch Tat hatte Freude daran, sich dieses Buch mit Harriet anzuschauen. Sie saßen auf Tats Manchestersofa und blätterten gemeinsam die Seiten um, vorbei an zarten Wandgemälden aus zerstörten Villen, vorbei an Bäckerständen, die mit Brot und allem, was dazugehörte, unter einer fünf Meter tiefen Ascheschicht tadellos konserviert waren, vorbei an gesichtslosen Gipsformen toter Römer, noch immer verrenkt in den beredten Posen des Leidens, in denen sie vor zweitausend Jahren im Glutregen auf das Kopfsteinpflaster gestürzt waren.
»Ich begreife nicht, warum diese armen Menschen nicht so klug waren, vorher zu flüchten«, sagte Tat. »Vermutlich wussten sie damals noch nicht, was ein Vulkan ist. Und ich nehme an, es war ein bisschen so wie damals, als der Hurrikan Camille an der Golfküste gewütet hat. Da gab es eine Menge törichte Leute, die nicht gehen wollten, als die Stadt evakuiert wurde, und sie saßen im Buena Vista Hotel herum und tranken, als wären sie auf einer großen Party. Ich sage dir, Harriet, sie haben noch drei Wochen lang ihre Leichen aus den Bäumen geangelt, nachdem das Wasser zurückgegangen war. Und vom Buena Vista war kein Stein auf dem andern geblieben. An das Buena Vista wirst du dich nicht erinnern, Schatz. Da waren Skalare auf die Wassergläser gemalt.« Sie blätterte um. »Hier. Siehst du diesen Gipsabdruck von dem kleinen Hund, der gestorben ist? Er hat noch einen Keks in der Schnauze. Irgendwo habe ich eine hübsche Geschichte gelesen, die jemand über genau diesen Hund geschrieben hat. In der Geschichte gehörte der Hund einem kleinen pompejanischen Bettlerjungen, den er liebte, und er starb, als er versuchte, ihm Proviant zu besorgen, damit er auf der Flucht aus Pompeji etwas zu essen hätte. Ist das nicht traurig? Natürlich kann das niemand genau wissen, aber es ist doch ziemlich nah an der Wahrheit, meinst du nicht auch?«
»Vielleicht wollte der Hund den Keks auch für sich selbst.«
»Das bezweifle ich. Weißt du, dieser Keks war wahrscheinlich das Letzte, was dieses arme Ding im Sinn hatte, als all die Leute schreiend umherrannten und überall die Asche herabregnete.«
Tat teilte Harriets Interesse an der versunkenen Stadt aus menschlicher Sicht, aber sie verstand nicht, weshalb Harriets Faszination sich auch auf die unbedeutendsten und am wenigsten
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