Der kleine Freund: Roman (German Edition)
gesehen, aber sie wusste ihr Leben lang, dass sie darin geboren war. An jedem Weihnachtsabend (es waren jetzt kleinere, traurigere Weihnachtsfeste, an denen sie sich in Libbys stickigem kleinem Haus mit den niedrigen Decken an der Gasheizung versammelten und Eierpunsch tranken) erzählten Libby und Tat und Adelaide die gleiche Geschichte: die Geschichte, wie sie sich in Edies Auto gezwängt hatten und hinüber ins Krankenhaus nach Vicksburg gefahren waren, um Harriet durch den Schnee nach Hause zu holen, am Weihnachtsabend.
»Du warst das schönste Weihnachtsgeschenk, das wir je bekommen haben«, sagten sie. »Robin war so aufgeregt. In der Nacht, bevor wir dich abholten, konnte er kaum schlafen, und bis vier Uhr morgens hat er deine Großmutter wach gehalten. Und als er dich das erste Mal sah, als wir dich ins Haus brachten, war er einen Augenblick still, und dann sagte er: ›Mutter, du hast eindeutig das schönste Baby ausgesucht, das sie hatten. ‹«
»Harriet war ein so braves Baby«, sagte Harriets Mutter wehmütig. Sie saß vor der Heizung und umklammerte ihre Knie. Wie Robins Geburtstag und sein Todestag war auch Weihnachten immer sehr schmerzlich für sie, und das wussten alle.
»War ich brav?«
»Ja, das warst du, Liebling.« Es stimmte. Harriet hatte nie geweint oder irgendjemanden auch nur einen Augenblick lang geplagt, ehe sie sprechen gelernt hatte.
Harriets Lieblingsbild in der herzförmigen Schachtel, das sie im Licht der Taschenlampe wieder und wieder betrachtete, zeigte sie und Robin und Allison vor dem Weihnachtsbaum im Wohnzimmer von »Drangsal«. Es war das einzige Bild, das sie
kannte, auf dem sie alle drei zu sehen waren, und es war das einzige Bild von ihr, das im alten Haus ihrer Familie aufgenommen worden war. Es vermittelte keinerlei Vorahnung auf einen der vielen Schicksalsschläge, die bevorstanden. Der alte Richter würde einen Monat später nicht mehr da sein, »Drangsal« würde für immer verloren gehen, und Robin würde im Frühling sterben, aber damals hatte das natürlich niemand gewusst. Es war Weihnachten, im Haus war ein neues Baby, alle waren glücklich und glaubten, sie würden ewig glücklich sein.
Auf dem Bild stand Allison, würdevoll in ihrem weißen Nachthemd, barfuß neben Robin, der die kleine Harriet auf dem Arm trug; in seinem Gesicht mischten sich Aufregung und Ratlosigkeit, als sei Harriet ein ausgefallenes Spielzeug und als wisse er nicht genau, wie er damit umgehen sollte. Der Weihnachtsbaum funkelte neben ihnen, und am Rande des Bildes spähten Robins Katze Weenie und der neugierige Bounce niedlich ins Bild, wie die Tiere, die gekommen waren, um Zeugen des Wunders im Stall zu sein. Über der Szene lächelten die marmornen Engel. Das Licht auf dem Foto war gebrochen, gefühlvoll, durchglüht von Katastrophen. Am nächsten Weihnachtsfest würde sogar Bounce, der Terrier, tot sein.
Nach Robins Tod veranstaltete die Erste Baptistenkirche eine Kollekte für ein Geschenk zu seinem Gedenken – eine japanische Quitte oder vielleicht neue Sitzkissen für die Kirchenbänke –, aber es kam mehr Geld zusammen, als irgendjemand erwartet hatte. Eins der sechs Buntglasfenster der Kirche, jedes mit einer Szene aus dem Leben Jesu, war während eines Wintersturms von einem Ast zerschmettert worden und seitdem mit Sperrholz vernagelt. Der Pastor, der schon nicht mehr geglaubt hatte, dass man sich ein neues Fenster werde leisten können, schlug vor, jetzt eins zu kaufen.
Einen beträchtlichen Teil des Geldes hatten die Schulkinder der Stadt zusammengetragen. Sie waren von Tür zu Tür gezogen, hatten Tombolen und Kuchenbasare veranstaltet. Robins Freund Pemberton Hull (der bei der Kindergartenaufführung
den Lebkuchenmann gespielt hatte, mit Robin als Schwarzdrossel) hatte für das Denkmal seines toten Freundes fast zweihundert Dollar gespendet, eine Großzügigkeit, die ihm, wie der neunjährige Pem behauptete, durch das Zerschlagen seines Sparschweins ermöglicht worden sei. Tatsächlich hatte er das Geld aus der Handtasche seiner Großmutter gestohlen. (Er hatte auch versucht, den Verlobungsring seiner Mutter beizusteuern, und außerdem zehn silberne Teelöffel und eine Freimaurer-Krawattenspange, deren Herkunft niemand ermitteln konnte; sie war aber mit Diamanten besetzt und offensichtlich wertvoll.) Doch selbst ohne diese stattlichen Gaben war die Summe, die Robins Klassenkameraden zusammenbrachten, ziemlich hoch, und man schlug vor, statt das zerbrochene
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