Der kleine Freund: Roman (German Edition)
Glasbild von der Hochzeit zu Kana durch die gleiche Szene zu ersetzen, doch lieber etwas anzuschaffen, mit dem man nicht nur Robin, sondern auch die Kinder ehrte, die so hart für ihn gearbeitet hatten.
Das neue Fenster, das anderthalb Jahre später unter den bewundernden Ausrufen der Ersten Baptistengemeinde enthüllt wurde, zeigte einen sympathischen, blauäugigen Jesus, der auf einem Felsblock unter einem Ölbaum saß, ins Gespräch vertieft mit einem rothaarigen Jungen mit Baseballmütze, der unverkennbar Ähnlichkeit mit Robin aufwies.
LASSET DIE KINDLEIN ZU MIR KOMMEN
lautete die Inschrift unter dieser Szene, und eingraviert auf einer Plakette darunter stand:
In liebevollem Gedenken an Robin Cleve Dusfresnes
von den Schülern in Alexandria, Mississippi.
»Denn ihrer ist das Himmelreich.«
Ihr Leben lang hatte Harriet ihren Bruder strahlend in einer Reihe mit dem Erzengel Gabriel, Johannes dem Täufer, Maria und Joseph und natürlich Christus selbst gesehen. Die Mittagssonne flutete durch seine erhabene Gestalt, und die geläuterten Konturen seines Gesichts (Stupsnase, Elfenlächeln) leuchteten in der gleichen seligen Klarheit. Es war eine Klarheit, die desto lichtvoller erschien, weil sie kindlich war, verwundbarer als Johannes der Täufer und die anderen; aber auch in diesem kleinen Gesicht lag jener heitere Gleichmut gegenüber der Ewigkeit – wie ein Geheimnis, das sie alle miteinander teilten.
Was genau war auf dem Kalvarienberg geschehen oder später im Grab? Wie konnte das Fleisch aus den Niederungen des Leids zu diesem Kaleidoskop der Auferstehung emporsteigen? Harriet wusste es nicht. Aber Robin wusste es, und das Geheimnis leuchtete in seinem verklärten Gesicht.
Christi eigener Übergang wurde – treffend – als Mysterium beschrieben, aber die Menschen waren sonderbar desinteressiert daran, ihm auf den Grund zu kommen. Was genau meinte die Bibel, wenn sie sagte, Jesus sei von den Toten auferstanden? War er nur im Geiste zurückgekehrt als eine Art unbefriedigendes Gespenst? Anscheinend nicht, wenn man der Bibel folgte: Der ungläubige Thomas hatte den Finger in die Nagelwunde in Seiner Handfläche gelegt. Er war durchaus handfest auf der Straße nach Emmaus gesehen worden. Er hatte sogar bei einem Seiner Jünger zu Hause einen kleinen Imbiss zu sich genommen. Aber wenn Er wirklich in Seinem irdischen Körper von den Toten auferstanden war, wo war Er dann jetzt? Und wenn Er alle so sehr liebte, wie Er es behauptete, warum musste dann überhaupt irgendjemand sterben?
Mit sieben oder acht war Harriet in die Stadtbibliothek gegangen und hatte nach Büchern über Zauberei gefragt. Zu Hause hatte sie empört festgestellt, dass sie nur Tricks enthielten: Bälle, die sich unter Tassen in Luft auflösten, Vierteldollarstücke, die den Leuten aus den Ohren fielen. Dem Fenster mit Jesus und ihrem Bruder gegenüber befand sich die Szene, in der Lazarus von den Toten auferweckt wurde. Immer wieder las Harriet die Lazarusgeschichte in der Bibel, aber
diese Geschichte beantwortete nicht einmal die elementarsten Fragen. Was hatte Lazarus Jesus und seinen Schwestern über die Woche im Grab zu erzählen? Roch er noch schlecht? Konnte er wieder nach Hause gehen und weiter mit seinen Schwestern zusammenleben, oder machte er den Leuten in seiner Umgebung Angst und musste deshalb vielleicht irgendwohin verschwinden und allein leben wie Frankensteins Ungeheuer? Sie kam nicht umhin zu glauben, dass, wenn sie, Harriet, dabei gewesen wäre, sie zu dem Thema sehr viel mehr zu sagen gehabt hätte als der heilige Lukas.
Vielleicht war alles nur erfunden. Vielleicht war Jesus selbst nicht von den Toten auferstanden, obwohl alle Welt es behauptete. Aber wenn Er wirklich den Stein beiseite gerollt hatte und lebend aus dem Grab getreten war, warum dann nicht auch ihr Bruder, den sie jeden Sonntag gleißend an Seiner Seite sah?
Dies war Harriets größte Obsession und die, aus der alle andern entsprangen. Denn eines wünschte sie sich mehr als »Drangsal«, mehr als alles andere: Sie wollte ihren Bruder wiederhaben. Und als Zweites wollte sie herausfinden, wer ihn ermordet hatte.
An einem Freitagmorgen im Mai, zwölf Jahre nach dem Mord an Robin, saß Harriet an Edies Küchentisch und las Captain Scotts Tagebuch über seine letzte Expedition in die Antarktis. Das Buch war zwischen ihrem Ellenbogen und einem Teller aufgestellt, von dem sie Rührei mit Toast aß. Sie und Allison frühstückten oft bei Edie, wenn
Weitere Kostenlose Bücher