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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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dramatischen Aspekte des Untergangs erstreckte: auf zerbrochene Gerätschaften, graue Tonscherben, verrostete Klumpen aus unkenntlichem Metall. Und ganz sicher war ihr nicht klar, dass Harriets besessene Vorliebe für Bruchstücke etwas mit der Geschichte ihrer Familie zu tun hatte.
    Wie die meisten alten Familien in Mississippi waren die
Cleves früher reicher gewesen als heute. Genau wie beim untergegangenen Pompeji waren auch von diesen Reichtümern nur Spuren übrig geblieben, und sie erzählten einander gern Geschichten von ihrem verlorenen Vermögen. Manche davon entsprachen der Wahrheit. Die Yankees hatten ihnen tatsächlich einen Teil ihres Schmucks und ihres Silbers gestohlen, wenn auch nicht die ungeheuren Schätze, denen die Schwestern seufzend nachtrauerten. Richter Cleve hatte der Börsenkrach von 1929 übel mitgespielt, und in seiner Senilität hatte er ein paar katastrophale Investitionen getätigt, von denen die bemerkenswerteste darin bestand, dass er den Großteil seiner Ersparnisse in ein verrücktes Projekt zur Entwicklung des Autos der Zukunft gesteckt hatte – in ein Automobil, das fliegen konnte. Nach seinem Tod mussten seine Töchter bestürzt feststellen, dass der Richter einer der Haupteigner des bankrotten Unternehmens gewesen war.
    Daher musste das große Haus, das seit seiner Erbauung im Jahr 1809 im Besitz der Familie Cleve gewesen war, in aller Eile verkauft werden, um die Schulden des Richters zu begleichen. Darüber trauerten die Schwestern noch immer. Sie waren dort aufgewachsen – wie auch der Richter selbst und seine Mutter und Großeltern. Was noch schlimmer war: Der Käufer verkaufte es postwendend an jemanden, der ein Altenheim daraus machte, und als dieses Altenheim seine Zulassung verlor, wandelte er es in Sozialwohnungen um. Drei Jahre nach Robins Tod war es bis auf die Grundmauern niedergebrannt. »Den Bürgerkrieg hat es überstanden«, sagte Edie verbittert, »aber am Ende haben es doch die Nigger bekommen.«
    Tatsächlich war es Richter Cleve gewesen, der das Haus zerstört hatte, nicht »die Nigger«; fast siebzig Jahre lang hatte er keine Reparaturen daran vornehmen lassen, und seine Mutter in den vierzig Jahren davor auch nicht. Als er starb, waren die Fußböden verrottet, die Fundamente von Termiten zerfressen, und das ganze Gebäude stand kurz vor dem Einsturz, aber noch immer sprachen die Schwestern liebevoll von den handgemalten Tapeten – Rosenblüten auf eierschalenblauem Grund –, die aus Frankreich importiert worden waren,
von den marmornen Kaminsimsen mit den gemeißelten Engeln und dem handgefädelten Kronleuchter aus böhmischem Kristall, von der Doppeltreppe, die eigens dazu erdacht gewesen war, das Feiern gemischter Feste zu ermöglichen: Die eine Treppe war für die Jungen, die andere für die Mädchen, und das Obergeschoss des Hauses war durch eine Wand geteilt, sodass mutwillige Jungen sich nicht mitten in der Nacht zu den Zimmern der Mädchen hinüberschleichen konnten. Sie hatten fast vergessen, dass die Jungentreppe an der Nordseite seit fast fünfzig Jahren keine Party mehr gesehen hatte, als der Richter starb, und so wacklig gewesen war, dass man sie nicht mehr hatte benutzen können. Dass das Esszimmer von dem senilen Richter bei einem Unfall mit einer Paraffinlampe beinahe ausgebrannt worden wäre. Dass die Böden durchhingen, dass das Dach undicht war, dass die Stufen an der hinteren Veranda im Jahr 1947 unter dem Gewicht des Mannes von der Gasanstalt, der die Uhr hatte ablesen wollen, zersplittert waren und dass die berühmte Tapete sich in großen, schimmeligen Fladen vom Putz abschälte.
    Amüsanterweise hatte das Haus »Drangsal« geheißen. Richter Cleves Großvater hatte es so genannt, weil er behauptete, dass der Bau ihn beinahe umgebracht hätte. Jetzt war nichts davon übrig außer den beiden Kaminen und dem moosbewachsenen Ziegelpfad. Das Ziegelpflaster war in einem verzwickten Fischgrätmuster angelegt, und der Pfad führte von den Fundamenten zur vorderen Treppe, wo auf einer Stufe fünf rissige Kacheln in verblichenem Delfter Blau den Namen CLEVE bildeten.
    Für Harriet waren diese fünf holländischen Fliesen ein weit faszinierenderes Überbleibsel einer versunkenen Zivilisation als irgendein toter Hund mit einem Keks in der Schnauze. Für sie war das feine, wässrige Blau das Blau des Reichtums, der Erinnerung, das Blau Europas, des Himmels, und alle Drangsal, die sie daraus herleitete, leuchtete mit der

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