Der kleine Freund: Roman (German Edition)
kleiner, verkleidet für die Kindergartenaufführung Der Lebkuchenmann, in der Rolle eines gierigen schwarzen Vogels. Das Kostüm, das er dabei getragen hatte, war berühmt. Libby hatte Wochen mit Nähen zugebracht: ein schwarzes Trikot mit orangegelben Strümpfen, und vom Handgelenk bis zur Achsel und von der Achsel bis zu den Oberschenkeln waren Flügel aus federbesetztem schwarzen Samt angenäht. Ein Kegel aus orangegelber Pappe war als Schnabel über seine Nase gestülpt und festgebunden. Es war ein so schönes Kostüm, dass Robin es zwei Halloweens hintereinander getragen hatte, genau wie seine Schwestern nach ihm, und noch heute wurde Charlotte von Müttern aus der Nachbarschaft angerufen, die darum baten, es für ihre Kinder ausborgen zu dürfen.
Am Abend des Theaterstücks hatte Edie einen ganzen Film verknipst: mehrere Aufnahmen von Robin, wie er aufgeregt durch das Haus rannte; er flatterte mit den Armen, seine Flügel blähten sich hinter ihm, und eine oder zwei verlorene Federn wehten auf den riesigen, fadenscheinigen Teppich. Eine schwarze Schwinge, der schüchternen Libby um den Hals geworfen, der errötenden Näherin. Hier war er mit seinen kleinen Freunden Alex (als Bäcker, in einem weißen Kittel und mit Mütze) und dem schlimmen Pemberton, dem Lebkuchenmann persönlich, dessen kleines Gesicht dunkel war vor Wut über das würdelose Kostüm. Und wieder Robin, ungeduldig zappelnd, während seine kniende Mutter ihn festhielt und sich bemühte, einen Kamm durch sein Haar zu ziehen. Die verspielte junge Frau war unbestreitbar Harriets Mutter, aber eine Mutter, die sie nie gekannt hatte: beschwingt, bezaubernd, funkelnd vor Lebendigkeit.
Die Bilder schlugen Harriet in ihren Bann. Mehr als alles andere wünschte sie sich, sie könnte aus der Welt, die sie kannte, in ihre kühle, blaustichige Klarheit hinübergleiten, wo ihr Bruder lebte und das Haus stand und alle immer glücklich
waren. Robin und Edie in dem großen, düsteren Wohnzimmer, beide auf Händen und Knien bei einem Brettspiel – sie konnte nicht erkennen, was es war, irgendein Spiel mit bunten Karten und einer farbenprächtigen Scheibe, die man kreiseln ließ. Und da waren sie wieder, Robin mit dem Rücken zur Kamera, wie er Edie einen dicken roten Ball zuwarf, und Edie, wie sie komisch die Augen verdrehte, als sie losstürzte, um ihn zu fangen. Da blies er die Kerzen auf seiner Geburtstagstorte aus – neun Kerzen, der letzte Geburtstag, den er erleben würde; Edie und Allison beugten sich über seine Schulter, um ihm zu helfen, und ihre lächelnden Gesichter leuchteten im Dunkeln. Ein Delirium von Weihnachtsfesten: Tannenzweige und Lametta, Geschenke, die unter dem Baum hervorquollen, Kristallschalen mit Süßigkeiten und Apfelsinen und zuckerbestäubte Kuchen auf silbernen Platten, die Engel am Kamin mit Stechpalmengirlanden geschmückt, und alle lachten, und der Kronleuchter loderte in den hohen Spiegeln. Im Hintergrund, auf der Festtafel, konnte Harriet gerade noch das berühmte Weihnachtsgeschirr erkennen, umkränzt mit einem Muster aus scharlachroten Bändern und klingelnden Schlittenglöckchen, in Blattgold getrieben. Beim Umzug war es zerbrochen, die Packer hatten schlecht gearbeitet, und jetzt gab es davon nur noch zwei Untertassen und eine Sauciere. Aber auf dem Foto war alles noch da, himmlisch, prachtvoll, ein komplettes Service.
Harriet selbst war eine Woche vor Weihnachten geboren, mitten in einem Schneesturm, dem schwersten, den es seit Menschengedenken in Mississippi gegeben hatte. Es gab auch ein Bild von diesem Schneefall in der herzförmigen Schachtel: die zwei Ulmen vor »Drangsal«, blitzend von Eis, und Bounce, Adelaides längst verstorbener Terrier, wie er verrückt vor Aufregung den verschneiten Pfad hinunterrennt, seiner Herrin, der Fotografin, entgegen – mitten im Kläffen für immer erstarrt, die dünnen Beinchen verwischt, eine Schaumwolke von Schnee aufwirbelnd, ein Augenblick glorreicher Erwartung, ehe er seine geliebte Herrin erreichte. Im Hintergrund stand die Haustür offen, und Robin winkte dem Betrachter fröhlich
zu, während seine schüchterne Schwester Allison sich an seine Hüften klammerte. Er winkte Adelaide zu, die das Foto gemacht hatte, und Edie, die seiner Mutter aus dem Auto half, und seiner kleinen Schwester Harriet, die er noch nie gesehen hatte und die an diesem schneehellen Weihnachtsabend aus dem Krankenhaus zum ersten Mal nach Hause gebracht wurde.
Harriet hatte nur zweimal Schnee
Weitere Kostenlose Bücher