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Der kleine Koenig von Bombay

Der kleine Koenig von Bombay

Titel: Der kleine Koenig von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chandrahas Choudhury
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sich der Wagenführer aus seiner Kabine lehnte und auf die Geleise spuckte. Dann fuhr der Zug mit einem Ruck an und rollte aus dem Bahnhof, und die Räder klapperten auf den Schienen. Männer, dann Frauen im Frauenabteil zogen vorbei, sie standen in den Türen und streckten die Köpfe hinausin den leichten Wind. Eines der Mädchen war so schön, dass Arzee am liebsten über das Brückengeländer nach unten gegriffen und sie mit meterlangen Armen zu sich hochgehoben hätte. Dann war das Gleis wieder leer. Nur ein Lumpensammler war in eigener Sache unterwegs. In der Ferne sah man schon den nächsten Zug herankommen, so wie eine Filmrolle bruchlos auf die andere folgt.
    »Nichts ist je einfach oder mühelos in meinem Leben«, dachte Arzee. »Selbst ein Tag wie heute, an dem ich in eine neue Position aufsteige, muss damit anfangen, dass Mutter zu mir sagt, ich trinke zu viel, und dann falle ich in den Dreck und mache meine Kleider schmutzig und werde auch noch von einem Gangster attackiert. Mein Arbeitstag fängt erst nachmittags an, das ist das Problem – in der Zwischenzeit kann viel schiefgehen. Deepak! Er ist dünn, aber er schlägt zu wie ein Teufel. Aber immerhin habe ich ihm auch einen ordentlichen Tritt verpasst – ich spüre immer noch sein Schienbein an meinen Zehen! Tausend – das ist ein Haufen Geld. Zehn Hunderter. Zwanzig Fünfziger. Hundert Zehner! Aber morgen geh ich lieber mal zu ihm hin, sonst werden mir diese guten Tage jetzt durch Gemeinheiten, Gewalt und Geschimpfe versaut. Diesen Monat gebe ich ihm die Tausend, und nächsten Monat schauen wir dann mal – so leicht wird er das Geld nicht von mir kriegen. Ich habe ihn richtig gehasst die ganze Zeit, aber jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher … Heute war er eigentlich ganz okay … hat einiges gesagt und mir Fragen gestellt. Alles eine Frage der Ausstrahlung! Er hat meine neue Kraft gespürt und musste mir deshalb mehr Respekt entgegenbringen. Ich sollte ihn auf meine Seite ziehen, wenn es irgendwie geht, er könnte mir später mal nützlich sein … Dieses Leben ist voller Situationen, in denen Kontakteund ein rauerer Umgang gefragt sind. Er muss nur einmal ins Kino kommen und seine Kinder mitbringen, dann hab ich ihn an der Angel.« Er hob den Kopf. »Dieser Wind – er frischt wieder auf, und der Himmel ist ganz schwarz von Regenwolken. Ich will mal zusehen, dass ich ein Dach über dem Kopf habe, bevor es anfängt zu regnen. Lauf, mein Freund! Die Scherereien des heutigen Tages liegen hinter dir – jetzt auf zum Ziel!«
    Er eilte zu der Treppe, die von der Brücke auf den Markt hinunterführte. Es stank penetrant nach Pisse, aber er durfte sich nicht beklagen, denn erst gestern Abend auf dem Heimweg hatte er hier selbst ausgiebig gepinkelt, dort hinter der Reklametafel. Ein Mann hatte mit gelber und orangefarbener Kreide ein Bild von Shirdi Sai Baba aufs Pflaster gemalt, auf das die Passanten Münzen legen sollten. Arzee warf das Wechselgeld von seiner Busfahrt auf das Bild, empfand es aber im nächsten Moment als Verschwendung. Er hätte das Geld ja wenigstens einem bettelnden Kind geben können. Aber er konnte es schlecht wieder einstecken – die Leute würden das für Diebstahl halten, und gutes Recht würde sofort zur Schuld erklärt werden! Über sich selbst verärgert, trat er nach einem Stein und scheuchte so eine Ratte auf, die aus ihrem Versteck hervorschoss und in einem Loch verschwand. Wie viele Tiere waren hier ringsum unbemerkt zugange! Arzee war klein und wusste um vieles, um das andere nicht wussten, doch um all diese Dinge zu sehen, hätte er noch viel kleiner sein müssen.
    Ein düsteres graues Licht hatte sich über die Szenerie gelegt, in die Arzee tagtäglich hinabstieg. Dort unten auf dem Markt übertrieben die Verkäufer, feilschten die Kunden, traten Füße vor und wieder zurück, fuchtelten und deuteten Hände. Jeden Moment würden Regentropfen herunterprasseln, überallwürden Regenschirme emporsprießen und bunte Abdeckplanen erblühen, die Leute würden sich bei den Markisen unterstellen, und tropfnasse Hunde würden sich zwischen ihre Beine drängen. Arzee spuckte in eine Ecke und hüpfte, durch seine schiefen Zähne pfeifend, die Treppe hinunter. Plötzlich stolperte er, war an einer ramponierten Stufe hängen geblieben und wäre fast kopfüber auf die Straße gesegelt, doch er bekam gerade noch das Geländer zu fassen und konnte seinen Kopf retten. Durch die abrupte, bedrohliche Bewegung aufgeschreckt,

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