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Der kleine Koenig von Bombay

Der kleine Koenig von Bombay

Titel: Der kleine Koenig von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chandrahas Choudhury
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stoben die vielen Tauben, die sich in dem
kabutar khana
1 unter der Treppe gesammelt hatten, um ihn herum auf und flatterten unter heftigem Flügelschlagen davon, und genau in diesem Moment platschten die ersten Regentropfen herunter. Beschwingt klappte Arzee seinen Kragen hoch und rannte los. Und als er über eine Schubkarre sprang, die quer auf der Straße lag, fühlte er sich so frei und leicht wie die Luft und wäre fast gar nicht mehr auf dem Boden gelandet.
    Vor ihm, weiter weg als es schien, ragte das Noor auf. In dem Türmchen leuchtete ein gelbes Licht, der alte Phiroz bei der Frühschicht. Das Wort Noor bedeutete auf Urdu »Licht«, und das passte genau, denn die Illusion des Films wurde durch einen Lichtstrahl erzeugt – damit dieser Lichtstrahl sich entfalten konnte, wurde ringsum Dunkelheit geschaffen. Die großen Tage des Noor waren längst vorbei. Es war jetzt so alt und baufällig, dass das Licht seines Namens, seiner Anziehungskraft stark verblasst war. Doch immer noch horchten die Leute auf, wenn der Name fiel. Auf dem Jahrestreffen der Gewerkschaft der Bombayer Filmvorführer – der Bombay Projectionists Union (BPU), mittlerweile MumbaiProjectionists Sangh (MPS) – wurden Arzee und Phiroz, die jedes Mal einen skurrilen Anblick boten, wenn sie zusammen eintraten, der eine so alt, der andere so klein, immer Plätze in der ersten Reihe freigemacht, und die anderen Filmvorführer redeten in solch vertrautem Ton vom Noor, als würden sie am liebsten dort arbeiten und nicht in ihrem eigenen Kino. Wenn er von dem begehrten Türmchen des Noor aus auf die Welt hinunterblickte und dabei einen Kaffee trank oder an einem Eis lutschte, fühlte sich Arzee immer sicher und wohl aufgehoben, und im Umgang mit anderen Leuten versuchte er stets, seine berufliche Position im Sinn zu behalten.
    Das Noor hatte diverse Noor-typische Eigenheiten. Das Erste, was einem auffiel, war, dass es aus der Ferne, eingefasst von den anderen Gebäuden, eine Art permanenten strengen Tadel auszustrahlen schien – eines der vielen Dinge, die Arzee an seinem Kino liebte. Wenn man sich eine Zigarette kaufte und beim Anzünden kurz zum Noor aufblickte, schien es Nein zu sagen: NO. Wenn ein Bekannter stehen blieb, um ein paar Worte mit einem zu wechseln, sagte das Noor über seinem Kopf NO. Und wenn man erwog, eine Wette abzuschließen oder eine Auseinandersetzung mit einem Freund oder Verwandten zu führen, war der Rat des Kinos NO. Was man auch tat oder dachte oder fragte, die stoische und immergleiche Antwort des Noor war NO, NO und noch mal NO. Das Noor präsentierte sich der Welt als grummelnder Zuschauer, als der große Verneiner.
    Erst wenn man vor dem Kino unter dem riesigen Banyan-Baum, dessen Luftwurzeln im leichten Wind schwankten, hindurchgegangen war – erst wenn man in die eigentliche Sphäre des Noors gelangte – wurde klar, dass die zwei großen roten Buchstaben, die vom oberen Rand des Gebäudesnach unten verliefen, tatsächlich vier waren und zusammen das Wort NOOR ergaben. Und jetzt aus der Nähe ging eine wohlwollende Energie vom Noor aus, so als freute es sich, dass man schließlich seinen Weg zu ihm gefunden hatte. Das Noor war, mehr als die Wohnung, die er mit Mutter und Mobin teilte, Arzees Zuhause auf dieser Welt. Hier verbrachte er seine Tage, tat er seine Arbeit, hier waren seine Vergangenheit und seine Zukunft. Wenn seine Gedanken rasten, ließ er sich in die weite Umarmung, in die wohltuende Stille des Noor sinken oder fand Ablenkung in dem freundlichen goldenen Licht und dem fröhlichen Rattern des Babur, der doppelt so groß war wie er. Bei Phiroz war es genauso, das wusste er, doch jetzt hörte Phiroz auf, und der Maschinenraum dieses Reichs war ganz allein sein. Er drückte das Tor zum Innenhof des Noor auf und ging hinein.
    Das Kino nahm nur die eine Hälfte des Noor-Gebäudes ein. Die andere Hälfte war ein Labyrinth verschlungener Korridore und winziger, beengter Büroräume, viele davon abgeschlossen und verriegelt, als bärgen sie unaussprechliche Geheimnisse. Im Eingang zu diesem Teil des Gebäudes hingen immer komische Vögel herum: hagere grauhaarige Männer im Safarianzug, die vergoldete Kulis in der Hemdtasche stecken hatten, oder beleibte Burschen mit Talkumpuder im Nacken, das fettige Haar flach über den Schädel gekämmt. Was genau sie da taten oder auf wen sie warteten, war schwer zu sagen. Vielleicht waren sie Geister wie Ranade, Männer, die ihr Leben lang hier gearbeitet hatten und

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