Der kleine Koenig von Bombay
Glauben an dich selbst solltest du nicht verlieren. Denk nicht, du wärst im Unrecht. Einen Mann wie dich findet man heutzutage nicht so leicht – lass dir das von mir gesagt sein.«
»Sind es meine Sterne, Dashrath? Meine Handlinien? Ich erkenne keinen Sinn in meinem Leben. Ist es denn verkehrt zu träumen, Dashrathji? Alle sagen, man bringt es nur zu etwas, wenn man Träume hat, große Träume. Und meine waren gar nicht so groß! Ich habe nur den Tag gesehen, an dem ich Phiroz als leitender Filmvorführer nachfolgen würde, so wie ich es verdient habe. Das war mein ganzes Sinnen und Trachten – mehr wollte ich überhaupt nicht. Und dann, so dachte ich, würde ich Frau und Familie haben, so wie alle anderen, würde Teil dieser Welt sein, und die Jahre würden verstreichen, und alles würde seinen Gang gehen. Ich sag dir mal was, Dashrathji. In den letzten Monaten habe ich gar nicht richtig in der Gegenwart gelebt. Ich habe in der Zukunft gelebt! Ich war nicht der, der ich tatsächlich war, sondern bin nach und nach schon zu dem geworden, der ich bald zu werden glaubte.«
»Da sprichst du etwas an«, sagte Dashrath und klopftemit den Fingerknöcheln auf den Tisch, »da sprichst du etwas an, das sich mit gewissen … mit gewissen Überlegungen von mir deckt.«
»Was für Überlegungen?«
»Nein – ein andermal. Das hat nichts mit dir zu tun, und im Moment reden wir über dich.«
»Aber worum geht es denn?«
»Ach, es sind nur ein paar Gedanken zum Leben. Du weißt doch, dass ältere Männer irgendwann anfangen, sich für alt und weise zu halten. Manchmal muss ich lachen, wenn ich daran denke, worüber ich so alles nachdenke.«
»In fünf Minuten schließen wir!« Ein alter Kellner ging herum und klopfte mit einem Teelöffel gegen ein Glas.
»Außerdem macht das Café zu«, sagte Dashrath.
»Komm, sag es mir, Dashrathji. Denk nicht, es wäre zu hoch für mich. Ich bin nicht so alt wie du, und ich kann nicht so gut wie du mit Worten umgehen, aber auch ich habe so meine Gedanken zum Leben. Ich werde dich verstehen! Ich habe auch so meine Gedanken.«
»Also gut. Meine Überlegung lautet: Leben wir das Leben, das uns gegeben ist, oder«, Dashrath hob seine Untertasse in den Untertassenhimmel, »leben wir tatsächlich eine Art Traumleben? Wir existieren in der Gegenwart, keine Frage – wir laufen, schlafen, arbeiten. Aber leben wir eigentlich nicht vielmehr in der Vergangenheit und in der Zukunft? Ich sitze im Auto und fahre die Peddar Road entlang und durch Worli, aber ich denke an den nächsten April, wenn es wieder Zeit ist, nach Hause zu fahren, denke daran, dass die Kinder gewachsen sein werden, und an die grünen Halme, die dort jetzt bestimmt auf den Feldern sprießen. Ist unser Innenleben nicht eigentlich ein Phantasieleben? Und ist es nicht das, was dichzu Arzee und mich zu Dashrath macht, genauso sehr wie unser Name, unsere Familie, unser Platz in der Welt?«
»Stimmt«, sagte Arzee. »Und das ist der Teil von uns selbst, von dem kein anderer weiß. Es ist wie eine Geschichte, Dashrathji, die wir für uns selbst erfinden, indem wir gewisse Zeichen in der Welt lesen. Und sie gibt uns Hoffnung.«
»So ist es. Der Mensch liegt in Ketten, wo immer er ist!«, sagte Dashrath, der jetzt so richtig in Schwung kam. »Das Einzige, was ihn am Leben hält, ist seine Vorstellungskraft. Seine Füße sind immer an den Boden gekettet, und doch fliegt er auf den Flügeln der Phantasie. Er wird von der Realität verurteilt und von der Phantasie begnadigt.«
»Die Phantasie …«
»Was ist die Liebe? Der geliebte Mensch ist ein Mensch wie du und ich, mit tausend Fehlern und Schwächen. Doch für kurze Zeit wird er oder sie zu einem makellos schönen, vollkommenen Wesen – einem Himmelswesen! Die Liebe ist die wahre Heimat der Phantasie. Erwiderte Liebe – ein Paradies, das allein aus zwei in Einklang gebrachten Phantasien entsteht.«
Und da Dashrath das Thema nun angesprochen hatte, begann Arzee über die Liebe nachzudenken und was es damit auf sich hatte; er wanderte im Geiste ab, und für eine Weile war er nicht bei Dashrath. Er schweifte durch Gedankenwelten und kehrte schließlich auf anderem Weg wieder zu Dashrath zurück, der immer noch sprach:
»Was ist Gott anderes als eine Vorstellung? Es ist fruchtlos, darüber zu debattieren, ob Gott existiert, denn Gottes Existenz kann weder bewiesen noch widerlegt werden. Solange es Gott in der Wahrnehmung des Menschen gibt, existiert er. Und was ist unsere
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