Der kleine Koenig von Bombay
oben an einem Hochhaus, das frisch gestrichen wurde, brannte noch eine einzelne Glühbirne, und in ihrem Licht sah Arzee, wie der Wind über das Sackleinen an dem Baugerüst strich, so dass es sich kräuselte wie die Sahne auf Dashraths Tee. Alles war so still und ruhig, dass es Arzee vorkam, als schwebte er. Jetzt konnte man – anders als tagsüber – tatsächlich glauben, dass die Erde sich drehte, langsam rotierte, so wie es in den Schulbüchern stand.
Im Raum immer wieder um die eigene Achse, in der Zeit immer weiter voran – selbst in der Ruhe gab es so viel unmerkliche Bewegung. Arzee wäre am liebsten immer weiterdurch die stille, dunstige Nacht gelaufen und hätte nach und nach alle Straßen und Wege, alle Verbindungen und Zugehörigkeiten, alle Erinnerungen hinter sich gelassen – wäre am liebsten aus dem ganzen Gespinst ausgebrochen und, ruhig und unerschütterlich, in seiner eigenen Umlaufbahn gekreist, befreit vom Joch der Zeit, von Krach und Kokolores.
»Unter dem Dach des Noor war ich groß«, dachte er, »und ich hätte noch viel größer werden können, aber unter diesem Himmel hier bin ich ganz klein. Würde ich doch bloß noch kleiner werden – am besten völlig verschwinden!«
Wegen des Zwischenstopps im Café Momin ging er auf einem anderen als dem üblichen Weg nach Hause, und so kam er jetzt zu einer Kirche, die an einer Straßenecke zwischen zwei Einkaufszentren mit hässlichen Reklameschildern und marktschreierischen Sale-Postern eingekeilt war. Selbst an der Einfriedungsmauer der Kirche hing ein Plakat, ein religiöses, das einen Mann mit wallenden Locken und einem weißen Tuch um die Schultern zeigte. Im Vorbeigehen sah Arzee die Worte
negative Gefühle
, und er blieb stehen, um weiterzulesen. Auf dem Bild war der berühmte Meditationsguru Sri Sri Ravi Shankar zu sehen, von dem Arzee schon in den höchsten Tönen hatte reden hören. Auf dem Plakat waren Veranstaltungsorte und -zeiten einer Einführung in die
Kunst des Lebens
aufgelistet, in der eine Atemtechnik gelehrt wurde, die Spannungen und Stress abbaute, negative Gefühle auflöste und den Körper entgiftete. Leute, die diese Atemtechnik erlernt hatten, berichteten von einem Zuwachs an Energie, größerem Seelenfrieden, einem besseren Gesundheitszustand, glücklicheren Beziehungen und mehr Freude und Begeisterung. Er las:
»Luft umgibt und erfüllt unseren Körper – vergiss dasnicht und nimm sie wahr. Lerne sie zu nutzen. Wie der Fisch im Wasser, so lebt der Mensch in der Luft. Ohne Atem ist der Körper wertlos. Der Atem ist das Geheimnis des Lebens.«
Der Atem! Arzee hatte nie groß über das Atmen nachgedacht – irgendwie geschah es ganz von selbst, weshalb man mit den Gedanken stets woanders war. Er atmete ein-, zweimal tief ein und wieder aus, spürte jedoch keinen Unterschied, und er war zu müde, um es länger zu probieren. Er ertappte sich bei der beiläufigen Überlegung, welches Shampoo Sri Sri Ravi Shankar wohl benutzte.
Er bückte sich, um einen losen Schnürsenkel neu zu binden, und als er aufstand, bemerkte er, dass das Licht, das auf das Plakat fiel, von der Beleuchtung einer Jesus-Statue auf dem Kirchengelände herrührte. Arzee war nur einmal im Leben in einer Kirche gewesen, und da ihn das Mädchen, mit dem er damals gegangen war, verlassen hatte, konnte er mit diesen Gotteshäusern jetzt nichts mehr anfangen. Doch Jesus war irgendwie beeindruckend – es war sein Schmerz, der ihn so interessant machte. In der nächtlichen Stille dort in dem Lichtkegel stehend, verspürte Arzee eine seltsame Verbundenheit mit diesem Menschengott, dem Sohn von Phiroz’ Jungfrau Maria, der zu Beginn unserer Zeitrechnung auf Erden gewandelt war. Jesu Körper war lang und dünn, seine Arme waren emporgereckt wie Äste, und sein Kopf hing schlaff herunter, ruhte fast auf der Schulter. Das Kreuz schien ihn sehr zu peinigen und zugleich doch eine unverzichtbare Stütze für seinen geschwächten Körper zu sein. Jesus am Kreuz … wie musste er an jenem Tag unter all den Nägeln und Dornen gelitten haben! Und doch hatte niemand etwas unternommen, um Jesus zu helfen, alle waren sie entweder zu sehr mit sich selbst beschäftigt oder sie hatten Angst, ihreStimme zu erheben. Irgendwie schien es angemessen, dass in der Stille der Nacht, während die Gläubigen alle friedlich schliefen, Jesus weiterhin hier draußen vor der Kirche stand, heimgesucht und leidend bis in alle Ewigkeit. Wie menschlich er war, wie nah! Wer hatte ihn zu
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