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Der kleine Koenig von Bombay

Der kleine Koenig von Bombay

Titel: Der kleine Koenig von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chandrahas Choudhury
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Wahrnehmung unserer selbst?Größtenteils doch eine Fiktion! Wer von uns ist schon wirklich der Mensch, für den er sich hält?«
    »Bei dir klingt das ja gerade so, als wäre die Vorstellungskraft etwas ganz Wunderbares, Dashrathji.«
    »Das ist sie auch. Warum siehst du das anders?«
    »Ach«, sagte Arzee. »Das ist ja gerade das Problem. Denk nicht, ich wollte mich selbst loben, Dashrathji, aber mit der Vorstellungskraft kenne ich mich besser aus als jeder andere. Sie hat mein ganzes Leben bestimmt. Ich habe in erdachten Welten geträumt, geliebt, gehofft und gelebt, und später ging es mir darin elend. Ich hatte eine bestimmte Vorstellung von Menschen, und nachher waren sie ganz anders. Die Phantasie ist ein Betrüger, Dashrathji. Ich bin im Leben doppelt betrogen worden – einmal ganz eindeutig vom Leben selbst, und einmal von meinen Illusionen. Ich kann niemandem mehr trauen, Dashrathji, nicht einmal mir selbst – so weit hat mich die Phantasie gebracht. Meine Phantasie hält mich nicht am Leben, Dashrathji, sie quält mich. Sie verhindert, dass ich klar sehe! Ich weiß jetzt, dass es vor allem einen Menschen gibt, auf den ich aufpassen muss, und das bin ich selbst.«
    »Was für eine Reaktion! Sie hat etwas geradezu Heroisches«, sagte Dashrath. »Wenn du einen Augenblick warten würdest, halte ich das rasch in meinem Notizheft fest. Wir sollten uns öfter treffen. Ah, die Rechnung.«
    »Vierundzwanzig. Schreib du ruhig, Dashrathji, ich bezahle solange, sonst verlierst du noch den Faden.«
    »Nein, nein, ich zahle zuerst und dann schreibe ich. Hier ist ein Fünfziger. So, jetzt gib mir einen Augenblick Zeit.«
    Während Dashrath mit gesenktem Kopf zu schreiben begann, erschien über seinem Kopf eine Hand, deren Fingernach unten hingen. Sie gehörte natürlich dem Mann, der in der benachbarten Sitznische saß, doch war sie so seltsam platziert, gleichsam über die Trennwand gehakt, dass sie aussah wie etwas ganz Eigenes, Unabhängiges, ein Requisit, das nach der Probe an der Wand hängen geblieben war. Während Dashrath vor sich hinmurmelte und ein Blatt mit seinem Stift traktierte, bewegten sich die braunen Finger ein wenig, als würden sie durch das, was Dashraths Finger taten, angeregt. Es war spannend, die Hand zu betrachten – Arzee hatte das Gefühl, ihr noch ewig zuschauen zu können. Am liebsten hätte er sich vorgebeugt und sie berührt.
    »So, das wär’s«, sagte Dashrath. »Was guckst du denn so?«
    »Schon gut, Dashrathji. Gehen wir.«
    Als sie gingen, sah Arzee den vorstehenden Bauch des Mannes auf der anderen Seite der Trennwand, und plötzlich war die Hand nicht mehr interessant. Sie war nur durch den besonderen Blickwinkel zum Leben erwacht.
    »Soll ich dich nach Hause bringen?«
    »Nicht nötig, Dashrathji, ich gehe zu Fuß. Ich laufe gern – besonders nachts, wenn sonst niemand unterwegs ist.«
    »Sehr gut. Wir Stadtmenschen haben das Laufen verlernt.«
    »Letztes Jahr, am Tag der Überschwemmung, bin ich die ganze Strecke von Mahim bis zur Grant Road gelaufen. Dashrathji … Ich weiß nicht, ob dir das je aufgefallen ist, aber wenn ein Auto sehr schnell rückwärtsfährt, so in Schlangenlinien – das sieht echt ulkig aus.«
    »Welcher Dummkopf würde denn so fahren?«
    »Niemand, den du kennst, Dashrathji«, sagte Arzee lachend. »Du weißt doch, wie ich manchmal daherrede.«
    »Pass auf dich auf, mein Freund«, sagte Dashrath, während er in sein Taxi einstieg. »Ich hoffe, wir sehen uns baldwieder – bis dahin wirst du an dem guten Ort sein, von dem du geträumt hast.«
    »Ich weiß nicht, Dashrathji – sehr wahrscheinlich ist das nicht. Ich bin ein Dummkopf, Dashrathji. Und alle Welt weiß es. Komm gut nach Hause, Dashrathji.«
    Dashrath Tiwaris Taxi fuhr mit einem Ruck an und verschwand rumpelnd in der Nacht. Arzee schaute auf die Uhr. Es war zehn nach zwei. Er seufzte und machte sich auf den Heimweg.

    Während sie im Café Momin Tee getrunken hatten, war draußen ein leichter Dunst aufgekommen, ähnlich dem feinen Staub, der aufsteigt, wenn man Zucker in ein Gefäß füllt. Der Himmel war von dicken Blumenkohlwolken übersät, und Arzee sah, dass der Wind sie in dieselbe Richtung trieb, in die er ging. Unter dem steinernen Blick der Häuser raschelten und seufzten Bäume; auf den Stufen unter Rollläden und Markisen lagen Hunde, die Schnauze unter den Schwanz geschoben. Ein Schuh lag einsam auf der Straße – wo hatte er erst kürzlich einen Schuh so herumliegen sehen? Ganz

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