Der kleine Koenig von Bombay
Lebzeiten je verstanden? Er war allein und seiner Zeit nicht wirklich angehörend, genau wie Arzee.
»Wie sollte ich nicht leiden?«, dachte er, während er weiterging. »Das wäre zu viel erwartet. Was habe ich schon für Aussichten in einer Welt, in der selbst Jesus für anormal gehalten wurde! Diese monströse Normalität ist mir nicht vergönnt! Es war klar, dass es mich früher oder später erwischen würde. Ich war einfach dumm.«
Das Treppenhaus des Gebäudes, in dem er wohnte, war stickig. Moskitos sirrten in der Dunkelheit. Um diese Zeit war Mutter glücklicherweise nicht mehr wach. Manchmal wartete sie auf ihn, und dann saß sie, das Kinn in die Hand gestützt, halb schlafend neben ihm, während er zu Abend aß, doch nicht, wenn es so spät wurde wie heute. Arzee fischte in seiner Tasche nach dem Schlüssel und schloss die Wohnungstür auf.
Mutter lag bäuchlings auf ihrem Bett im Wohnzimmer und schnarchte leise. Arzee machte behutsam die Tür zu. Essensgeruch hing in der Luft, und der Hunger, den er den ganzen Tag verdrängt hatte, gellte jetzt in seinem Magen. Er schaltete die kleine Lampe in der Ecke ein und trat gierig an die zugedeckten Teller auf dem Tisch.
Was war denn das! Reste von gestern! Er hatte auf etwas Leckeres gehofft, aber es gab nur Reste von etwas, das von vornherein nicht geschmeckt hatte. Tränen stiegen Arzee in die Augen, als er das klägliche Abendessen betrachtete. Erwischte sie weg, streifte die Schuhe ab, ohne die Schleifen zu lösen, knöpfte sein Hemd auf und wusch sich am Küchenwasserhahn Hände und Gesicht. Warum konnte Mutter kein neues Essen kochen? Sie war den ganzen Tag zu Hause und guckte Fernsehen, während er da draußen in der Welt schuftete und litt, und wenn er nach Hause kam, gab es nur Reste!
Arzee schnitt eine Zwiebel, trug sie zum Tisch, kletterte auf seinen Hochstuhl und begann verdrießlich zu essen, wobei er dann und wann ein Gemüsestückchen an den Rand schob und zwischendurch einen Blick auf seine schlafende Mutter warf. Als er morgens aus dem Haus gegangen war, hatte er ihr gegenüber so liebevolle Gefühle gehabt! Er hatte sich vorgenommen, sie am Tag seiner offiziellen Beförderung ins Noor mitzunehmen und in den Raum hinaufzuführen, in den sie ihn vor all den Jahren selbst geführt hatte. Er würde so tun, als bemerkte er nicht, wie stolz sie auf ihn war, so tun, als überraschten und amüsierten ihn ihre Glückstränen, obwohl er doch selbst kurz davor war zu weinen. Doch während er sich jetzt die Reste des gestrigen Abendessens in den Schlund stopfte, empfand er eine seltsame Mischung aus Furcht und Feindseligkeit gegenüber seiner Mutter, gegenüber ihrem unnachgiebigen Wesen, ihrer sanften Tyrannei. Als er fertig war, stellte er den Teller ins Spülbecken, ohne sich die Mühe zu machen, ihn abzuspülen. Auch den Mund spülte er sich nicht aus, er stieß gleich die Schlafzimmertür auf, die laut quietschte. Seit Monaten wollte er sie schon ölen, aber das fiel ihm immer erst nachts um diese Uhrzeit ein.
Mobins schlaksige Gestalt lag ausgestreckt auf dem größeren der beiden Betten, Arme und Beine seitlich weggestreckt, als hätte ihn jemand dort hingeworfen. Arzee überlegte, ob er seinem Bruder den Finger in die Rippen bohren sollte, ließ esdann aber doch bleiben. Manchmal war die Vorstellung schon genauso erheiternd wie die eigentliche Tat! Er angelte unter seinem eigenen kleinen Bett nach den Shorts, die er morgens dort hingeschmissen hatte. Während er von seiner langen Hose in die Shorts wechselte, betrachtete er seine kurzen Beine, so unschuldig und verletzlich, dass sie geradezu danach verlangten, getreten oder zum Stolpern gebracht zu werden, und fluchte leise. Er legt sich auf seine klumpige Matratze, schob die Hand unter den Kopf. Aus seinen Achseln stieg der säuerliche Geruch alten Schweißes auf.
Was für ein Tag! Die Erde hatte sich einmal um sich selbst gedreht, er hingegen gleich zehnmal – er war ein neuer Mensch geworden. Es waren Tage wie dieser, an denen all die wirklich wichtigen Dinge auf dieser Welt geschehen waren … die Ermordung Gandhis, die Ausrufung des Notstandes, die Zerstörung der Babri-Moschee, die Bombenexplosionen in Pendlerzügen in Bombay. Es war so anstrengend zu leben – so mühsam!
Deepak, Abjani, Phiroz, Dashrath – die Ereignisse und Begegnungen des Tages spulten sich vor seinem inneren Auge ab wie ein Film, der durch den Babur lief. Lauter Männer: Wann hatte er das letzte Mal mit einer
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