Der kleine Koenig von Bombay
anderen Frau als Mutter gesprochen? Es war Monate her.
Im Dunkeln ließen die Umrisse und Formen ringsum mehr Deutungen zu als bei Tageslicht. Mobins Tasche lehnte an einem Bein des Bettes – es hätte auch ein auf Kniehöhe aufgebauschter Frauenrock sein können. Arzee bewegte sich, drehte sich um. Die Wand war so hell und glatt. Er schob die Hand daran hoch, spürte die Kühle. Er drehte sich wieder um. Hätte er geheiratet, dann hätte in ein paar Monaten seine Frau in ihrem langen Nachthemd neben ihm gelegen, auf derSeite, so dass er ihren Atem im Nacken spürte, und wenn er seine Hand auf ihre rundliche Hüfte gelegt hätte, dann hätte sie nicht protestiert. Er streckte den Arm aus, doch da war niemand. Er drehte sich auf den Bauch und schob die Hand unters Kissen.
Alle Straßen und Wege, alle Verbindungen und Zugehörigkeiten, alle Erinnerungen …
Siebtes Kapitel
Im Old Wadia Chawl
A rzee war es schon lange zu warm, seit geraumer Zeit warf er sich in der Grauzone zwischen Wachen und Schlafen im Bett herum. Doch erst die schrillen Stimmen von Nachbarinnen, die sich wegen eines geohrfeigten Kindes stritten, rissen ihn ganz aus seinem Traum – einem Traum, in den seine körperliche Verfassung eingeflossen sein musste, denn dort hatte er sich in einer sumpfartigen Umgebung ebenfalls hin- und hergewälzt.
Ihm fiel wieder ein, wer er war und was sich am Tag zuvor zugetragen hatte, und sofort erfasste ihn heftiger Ärger, weil er sich wieder in die Arena der Zeit begeben musste. Sein Ärger steigerte sich noch, als er merkte, dass er mit einem Laken zugedeckt war, das Mutter offenbar frühmorgens über ihn gebreitet hatte. Er hatte nicht zugedeckt werden wollen! Es war heiß, Herrgottnochmal! Er war doch kein Kind mehr! Er schwitzte; aus seinen Achseln stieg noch der gleiche säuerliche Geruch auf, nur jetzt doppelt so stark. Mobin war nicht mehr im Zimmer. Draußen zeterten immer noch die Frauen, ihre Stimmen schlugen gegen seine Trommelfelle wie Wellen gegen die Meeresküste. Der Duft köchelnden
sambars 4
aus der Wohnung unter ihnen erreichte seine Nase, und das Heuleneiner fernen Fabriksirene sagte ihm, dass es zehn Uhr war. Auf seiner Brust bewegte sich etwas. Es war eine rote Ameise, die sich geschäftig einen Weg durch den Wald seines Brusthaars bahnte, als hätte sie eine Verabredung an seinem Hals. Arzee blies die Backen auf und pustete die Ameise in die Luft. Sein Atem stank. Der neue Tag fühlte sich an wie ein Mühlstein, der ihm um den Hals hing. Er setzte sich auf, sackte wieder in sich zusammen und bedeckte sein Gesicht mit dem Laken.
Ein paar Minuten lag er so da, rat- und mut- und kraftlos. Ein gewaltiger, geradezu weltumspannender Groll breitete sich in ihm aus – ein Groll, der sich wie ein Kabel, wie eine Telefonleitung von seiner Kleinwüchsigkeit, die er schon bei seiner Geburt wie einen Samen in sich getragen haben musste, bis zum Tod des Noor erstreckte. Auf diese Weise aus dem Leben, das er sich aufgebaut hatte, vertrieben zu werden – das war noch schlimmer, als von Anfang an kaum eine Chance gehabt zu haben.
Als er das Laken abwarf, sah er aus der Tasche seines auf dem Stuhl liegenden Hemdes die Zigarettenschachtel lugen. Er stand auf, zündete sich eine Zigarette an, ging zum Fenster und blies den Rauch an die baufällige Wand des gegenüberliegenden Gebäudes. Normalerweise rauchte er zu Hause nicht, denn Mutter mochte das nicht. Aber es konnte nicht alles in diesem Haushalt gemäß Mutters Wünschen und Abneigungen laufen. Er betrieb schon viel zu lange eine Beschwichtigungspolitik! Sollte sie doch den Rauch ruhig riechen und hereinstürmen, sollte sie sich doch beschweren. Er würde kein Wort sagen, würde einfach ganz ruhig dastehen und auf seinem Recht beharren, als unabhängiger Erwachsener in seinem eigenen Zimmer zu tun, was er wollte. Resteessen – pfff!
Doch die Zigarette brannte ab und zerfiel zu Asche, undnichts geschah. Arzee konnte sie nicht einmal genießen, wie er so dastand und auf die Auseinandersetzung wartete, die er hatte entfachen wollen. Dieser Tag lief verkehrt, völlig verkehrt, schon von Anfang an. Vormittage waren nicht die richtige Zeit, um nachzudenken, vor sich hin zu sinnen. Für alle anderen war der Vormittag eine Zeit reger Tätigkeit: Sie badeten, frühstückten, zogen sich an, eilten zum Bus oder Zug. Doch für Filmvorführer waren die Vormittage das, was für andere die Nachmittage und Abende waren: die Zeit, in der sie ihre Freunde trafen,
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