Der kleine Koenig von Bombay
durch die Straßen schlenderten oder allein über ihrem Groll und ihren Ängsten brüteten. Sein Leben war in jeder Hinsicht unnormal. Arzee fühlte sich müder als am Abend zuvor. Offenbar hatte er den Schock nicht verwunden und das Ganze im Schlaf endlos gedreht und gewendet.
Sein Bauch war warm und schwer; er gab angestrengte, klagende Laute von sich. Arzee suchte seine Hausschuhe, doch während Mobins Hausschuhe, die ihm vier Nummern zu groß waren, direkt vor ihm standen, konnte er seine eigenen nirgends entdecken. Er fluchte und öffnete die Zimmertür. Mutter saß nicht im Wohnzimmer. Er schaute in die Küche, wo auf dem Herd das noch warme Frühstück stand, doch auch dort war Mutter nicht. Mutter war überhaupt nicht zu Hause! War sie böse auf ihn? Wollte sie nicht zur gleichen Zeit wie er zu Hause sein? Aber es war doch nicht seine Schuld! Nein … seine Angst holte ihn schon wieder ein. Es gab eine einfache Erklärung für das alles. Er sah Mutters zerschlissene Hausschuhe, zog sie an und fühlte sich gleich ruhiger.
Auf der Stirn, direkt über den Augenbrauen, spürte er zwei kleine verhärtete Stellen, doch auch als er sie massierte, löste sich die Verspannung nicht. Er setzte sich an den Tisch und schloss die Augen. Es war noch keine fünf Minuten her, dasser sie aufgemacht hatte, doch in seinem Kopf herrschte bereits eine fürchterliche Kakophonie. Die Dunkelheit wirkte besänftigend.
Der Tag erstreckte sich als endlose, seelenzerrüttende Ödnis vor ihm. Die einzige Ablenkung, die ihm einfiel, war, wie üblich mit seinen Freunden Karten zu spielen. Doch Arzee wollte seinen Freunden nicht begegnen. »Das verkrafte ich jetzt nicht«, dachte er. »Was werden sie lachen, wenn sie es erfahren! Da habe ich ihnen etwas über mich erzählt, und jetzt ist genau das Gegenteil eingetreten! Was schon schlimm genug ist, mache ich noch schlimmer. Das muss mir wirklich keiner erzählen – das weiß ich selbst. Ich wirke selbst daran mit, dass ich betrogen werde, stelle mir selbst das Bein.« Er war sich nicht einmal sicher, ob er überhaupt noch mit Hari und Shinde befreundet sein konnte.
Wenigstens stand am Abend der Besuch bei Deepak an. Arzee hatte das Gefühl, dass Deepak ihn verstehen würde. Er ging wieder in sein Zimmer, öffnete den Schrank zwischen seinem und Mobins Bett, nahm eine Matrjoschka aus einem Schuhkarton in einem Koffer und zählte von dem darin verwahrten Geld, das er für seine Zukunft angespart hatte, tausend Rupien ab. Ohne das Geld würde Deepak ihn keines Blickes würdigen.
Sprach sich die Neuigkeit bereits herum? Arzee meinte heute deutlich weniger Leute an Kaputkars Kartenschalter und dann im Zuschauerraum des Noor zu sehen – so wie Menschen nicht gern Sterbende besuchen. Als die lange, einsame Nachmittagsvorstellung vorbei war und der leichtlebige Held von
Saathi
zum achtzehnten Mal in dieser Woche gestorben war, rieb Arzee den Babur mit einem Lappen ab und überließdie Abendvorstellung Sule. Während die rote Sonne rasch unterging, machte er sich zu Fuß auf den Weg zum Old Wadia Chawl.
Phiroz hatte er wieder nur einen Augenblick gesehen. Der alte
bawa 5
war unmittelbar nach der Frühschicht erneut zu Hochzeitsvorbereitungen entschwunden. Nachdem er in all den Jahren immer nur auf Nachfrage von seiner Tochter gesprochen hatte, schien ihr Leben ihn jetzt vollauf in Anspruch zu nehmen. »Nur die Hochzeit bedeutet Phiroz noch etwas«, dachte Arzee. »Aus allem anderen hat er sich ausgeklinkt, als läge er im Sterben.«
Auf einer kleinen weißen Wolke erschien ihm das melancholische Gesicht des alten Filmvorführers mit diesem typischen selbstvergessenen Ausdruck, und als er sich umschaute, war ihm als hätten ringsum alle den gleichen Gesichtsausdruck. Die engen, lärmerfüllten Straßen waren so voll, dass er kaum fünf Schritte tun konnte, ohne innezuhalten oder ganz stehen zu bleiben, und doch waren die Leute so in Gedanken versunken, dass keiner den anderen wahrzunehmen schien – die Menschen hatten jeden Kontakt zueinander verloren. Aggressive Händler hatten sich mit Stangen, an denen ihre Waren befestigt waren, auf den Bürgersteigen breitgemacht und gingen belfernd die Passanten an wie angeleinte Hunde. Auf jeglicher planer Fläche versuchten Poster, Plakate und Aushänge einander mit unehrlichen, provokativen Werbesprüchen auszustechen. Fahrräder klingelten, Motorräder fuhren langsam Schlangenlinien und furzten Qualm, Autos krochen zentimeterweise vorwärts, und
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