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Der kleine Koenig von Bombay

Der kleine Koenig von Bombay

Titel: Der kleine Koenig von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chandrahas Choudhury
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aufzusammeln. Er hätte nicht sagen können, wie lange er dazu brauchte, denn zum Teil waren sie so klein wie Brotkrümel. Trotzdem klaubte Arzee sie zusammen, eine nach der anderen, und benetzte sie dabei mit seinen Tränen, und dann stand er auf und wischte sich das Gesicht mehrmals an seinem Ärmel ab. Er merkte, dass Mutter ihn anstarrte. Und sie sah seltsam aus – gar nicht wie Mutter. Es war, als wären sie wieder Fremde füreinander geworden, so wie sie es vor ewigen Zeiten einmal gewesen sein mussten.
    »Es ist niemandes Schuld«, flüsterte sie mit großen Augen. Sie deutete zum Himmel. »Das ist alles Schicksal, und niemand kann vor seinem Schicksal davonlaufen. Arzee! Ich wollte es dir eigentlich nicht sagen, aber es war einfach eine zu schwere Last, denn außer mir gibt es niemanden mehr auf dieser Welt, der es weiß. Früher oder später kommt die Wahrheit immer ans Licht, so steht es in den heiligen Schriften. Sag was, Arzee. Sag, dass du mir verzeihst. Sag, dass du uns allen verzeihst!«
    Arzee wandte sich zitternd ab.
    »Sag was, mein Sohn! Sag irgendetwas! Arzoo!«
    »Ich habe dir immer gesagt«, sagte Arzee mit kalter, ausdrucksloser Stimme, »ich habe dir immer gesagt, dass es nicht deine Schuld ist, dass ich ein Zwerg bin.«
    Und dann drehte er sich ohne ein weiteres Wort um und ging.

    Er stieg langsam die Treppe hinunter, fiel eher, als dass er lief, klammerte sich wie ein Blinder ans Geländer. In der Nähe schrillte eine Glocke. Ihm war, als käme ein Sturm auf – ein Sturm, der ihn forttragen würde, durch all die Jahre seines Lebens bis ganz an den Anfang, als er noch gar nichts wusste und nur unartikulierte Laute von sich geben konnte. Als er auf die Straße hinaustrat und dort stehen blieb, für alle sichtbar, verstummte die Glocke.
    Und dann flog das Tor des Schulhofs auf, und heraus stürmte eine lärmende, raufende Menge von Kindern, die Tinte verspritzten, mit Papierkügelchen schossen und ihre gelösten Schlipse durch die Luft sausen ließen, ihre Schulranzen wie hüpfende Buckel. Sie kamen die Straße heruntergelaufen, und im nächsten Moment war Arzee von ihnen umgeben. Wellen von Lebenskraft gingen von ihnen aus. Arzee trat zurück, um sie vorbeizulassen, und drehte das Gesicht weg, damit sie nicht sahen, dass er weinte. Doch ein dicker Junge, der bereits größer und schwerer war als er, rannte ihn über den Haufen. Arzee lag flach auf dem Boden, Staub drang ihm in Augen und Nase, und als er versuchte aufzustehen, trampelte ihm ein anderes Kind über die Brust, so dass ihm die Luft wegblieb. Ein endloser Wirbelsturm aus Beinen, Socken und Schuhen toste über ihn hinweg. Als er sich schließlich verzogen hatte und nur noch ein paar Nachzügler kamen, tat sich über Arzee ein grauer Himmel auf, der so leer war wie er selbst.
    Er war nicht Arzee. »Arzee« war nur eine Geschichte über ihn, die man ihm erzählt hatte.
    Er war in Wirklichkeit gar nicht der Sohn seiner Mutter.
    Seine Eltern waren auf See ums Leben gekommen.
    Und er war ein Zwerg. Nicht einmal Arzee, der Zwerg. Einfach Niemand, der Zwerg.
    Gab es sonst noch jemanden wie ihn auf der Welt?
    Nein! Es gab nur ihn.
    Wer war er?
    Was war er?
    Warum war er?

Zwölftes Kapitel
Die verborgene Trauer des Körpers
    W er bleibt in Bombay an einem Samstagabend zu Hause? Während die rote Sonne ins Meer sank, herrschte auf der strapazierten Sandfläche des Chowpatty Beach ein Rummel, an dem mindestens ein Zehntel der Stadtbevölkerung beteiligt schien. Und inmitten von Liebespaaren, die sich verstohlen an den Händen fassten und einander wieder losließen, Familien, die sich bemühten, ihre Schäfchen beisammenzuhalten, alten Leuten, die über den Unterschied zwischen früher und heute diskutierten, Studenten, die eine Pause machten, Arbeitslosen, die Zeit totschlugen, Schwarzmarkthändlern, die Deals einfädelten, Kleinstädtern, die mit großen Augen staunten, Kindern, die Sandburgen bauten, Hunden, die Löcher buddelten, Ballons, die sich aufblähten, und Blasen, die zerplatzten, saß eine kleine Gestalt mit angezogenen Knien und gesenktem Kopf, die keinen Anteil hatte an all dem Geschwatz und Gelächter, dem Hupen und Tröten, Essen und Trinken, Gaffen und Zwinkern, das sich ringsum abspielte, denn in ihrem Kopf überstürzten sich die Gedanken und ließen für nichts anderes Raum.
    Deshalb also – deshalb – deshalb!
    Nach und nach begriff Arzee alles; sämtliche Tatsachen seines Lebens entpuppten sich als Missverständnisse

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