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Der kleine Koenig von Bombay

Der kleine Koenig von Bombay

Titel: Der kleine Koenig von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chandrahas Choudhury
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und fielenihm vor die Füße. Ein »Deshalb also« nach dem anderen stieg in ihm auf wie ein Feuerwerk in den Nachthimmel und beleuchtete jeweils eine eigene Tatsache, noch zum banalsten Detail gab es eine Offenbarung, und so nahm die Stadt seines eigenen Lebens langsam eine andere Form und Farbe an.
    Deshalb also gab es in den Fotoalben zwar Babybilder von Mobin – von Vater und Mutter mit Mobin –, aber keine von ihm. Nicht weil das Fotografieren Anfang der Achtziger zu teuer gewesen wäre, wie man ihm immer erzählt hatte. Sondern weil er noch gar nicht in der Familie gewesen war!
    Und deshalb hatte er auch weder Mutters noch Vaters Nase, obwohl Kinder doch immer die Nase von einem ihrer Elternteile hatten. Wie hätte es auch sein können? Namen ließen sich beim Eintritt in eine neue Familie verändern, aber die Nase nicht.
    Und deshalb war Mutter immer so um seine Gesundheit und sein Wohlergehen besorgt gewesen und schon erschrocken, wenn er sich nur erkältete. Am Fleischtag bekam er immer beide Hühnerschlegel und an den anderen Tagen den größeren Anteil von allem, was gut und lecker war. Seine ganze Kindheit über hatte er nur mit dem Fuß aufstampfen oder ein paar Tränen vergießen müssen, und schon hatte Mutter seinen Forderungen nachgegeben, Mobin dagegen hatte stundenlang herumjammern müssen, ehe er bekam, was er wollte.
    Und Mobin – jetzt begriff er auch sein Verhältnis zu Mobin – zu Mobin, dessen Nase der von Vater glich. Die Wahrheit hatte immer dicht unter der Oberfläche der Fiktion gelegen, denn sie hatten sich tatsächlich nie wie leibliche Brüder verhalten. Weder hatten sie sich in ihre Geheimnisse eingeweiht noch gestritten und ständig konkurriert wie andereBrüder. Von Anfang an hatten sie kaum gemeinsame Freunde oder Interessen gehabt. In gewisser Weise war ihm Phiroz viel eher ein Bruder als Mobin, und zwar aus gutem Grund. Man konnte Brüder nicht per Verordnung schaffen, genauso wenig wie man Sonne und Mond dazu bringen konnte, zur gleichen Zeit aufzugehen.
    Und deshalb also konnte er auch nicht an Gott glauben, nicht die Wohltat des Glaubens und des Göttlichen empfangen – nicht nur, wie er immer gedacht hatte, weil er ein Zwerg war und somit einer eigenen Klasse und Schule angehörte, und nicht nur, weil er aus einer gemischtreligiösen Familie kam. Man hatte ihm seine eigentliche Religionszugehörigkeit nie verraten, weil das ganze Gebäude seines Lebens darauf beruhte, dass derlei Dinge verschwiegen wurden. Und jetzt war es zu spät, und er war zu durcheinander.
    Joseph! Wo war Joseph? War er nur die Schale und Joseph der Kern? Er die äußere Hülle und Joseph das im Dunkeln verborgene Eigentliche? Arzee spürte, wie in seinem Innern etwas schrie und um sich trat – als trüge er ein Kind im Leib! Er fühlte sich entwurzelt, jener Wurzeln beraubt, die jedes Kind ganz automatisch und mit gutem Grund für selbstverständlich nimmt. Er war zwei Lebewesen in einem, zwei Namen, drei Religionen, vier Eltern – ein mit wilder Nadel genähtes Stück Patchwork! In all den Jahren, in denen er mit dem Babur, auf den Schwingen des großen Lichtstrahls, Geschichten auf die Leinwand gebracht hatte, hatte er selbst eine Geschichte gelebt, mit voller Überzeugung die Rolle von Arzee gespielt. Er hatte geglaubt, noch mehr könne er nicht gequält, geschwächt und gebeutelt werden, doch all sein Unglück vom letzten Jahr war nur der auffrischende Wind gewesen, der diesem tödlichen Sturm vorausgegangen war! Er warnicht einfach Arzee, der Zwerg, der von Kummer und Sorge bedrängt wurde – sein ganzes Arzee-Sein war nur noch ein baufälliges Gebäude, genau wie das Noor! Sein Leben, sein Selbst waren ein einziges großes Produkt der Phantasie – der von Vater, der von Mutter, seiner eigenen –, und nur so war das alles erträglich und lebbar gewesen. Er war nicht Arzee, und doch konnte er kein anderer als Arzee sein – es war schon zu lange her, dass dieser Pfröpfling aufgesetzt worden war.
    »Und meine leiblichen Eltern?«, dachte er. »Wie hießen sie wohl? Waren sie schön? Wie sind sie umgekommen – ertrunken, in diesem Meer, an dem ich jetzt sitze! Wo wurden sie begraben? Haben sie insgeheim mein Leben lang zu mir gesprochen … leben sie irgendwie in mir fort, wie andere Eltern in ihren Kindern?«
    Und Mutter und Vater? Mutters Enthüllungen hatten nur die Oberfläche angekratzt. Es gab so viel, was er noch erfahren musste! Wie war der Tag gewesen, an dem er zur Waise geworden

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