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Der kleine Koenig von Bombay

Der kleine Koenig von Bombay

Titel: Der kleine Koenig von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chandrahas Choudhury
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war, an dem er nach seiner Mutter geschrien hatte und sie nicht gekommen war? Wie war seine erste Nacht in seinem neuen Zuhause gewesen? Er wünschte, er könnte sich daran erinnern – ja es kam Arzee vor, als
hätte
er sogar eine vage Erinnerung. Und wo wäre er aufgewachsen, wenn sie ihn nicht zu sich genommen hätten? In einem Waisenhaus, wo er abgelegte Kleider getragen und fades, fettiges Essen gegessen hätte und auf Kosten der mildtätigen Allgemeinheit verwildert wäre. Da schien es Arzee doch besser, der Arzee zu sein, der er war, als der Joseph, der er hätte gewesen sein können. »Es ist nicht recht so, aber anders ist es auch nicht recht. Es ist überhaupt nicht recht! Aber es ist nicht meine Schuld.« Das hatte Mutter gesagt, und sie hatte recht. Wie musste sie all die Jahre gelitten haben! Wie musste sie jedes Mal gezittert haben,wenn er sich im Spiegel betrachtete! Ob sie nachts, wenn er aus dem Kino zurückkam, noch immer wach lag und sich vorstellte, wie er voller Groll auf sein kleines Bett starrte, ehe er sich schlafen legte? Seit sich herausgestellt hatte, dass er ein Zwerg war, hatte sich ihre Beziehung unwiderruflich geändert, dabei hatte sein elender Körper tatsächlich gar nichts mit ihr zu tun. Dieser unselige Kleinwuchs hatte seinen Ursprung in einem anderen Leib, doch seine wirkliche Mutter war gestorben und hatte ihn den Wechselfällen des Lebens überlassen.
    Und jetzt zuckte etwas an Arzees Augen vorbei, schien ihn an der Kehle zu packen und erschreckte ihn so, dass er sich kopfüber in den Sand warf und keuchend, mit wildem Blick, dort liegen blieb.
    Es war jetzt klar, dass nicht Mutter für seinen Zwergwuchs verantwortlich war, sondern seine verstorbene leibliche Mutter.
    Aber was, wenn auch seine leibliche Mutter nicht dafür verantwortlich war?
    Was, wenn … wenn seine verkrüppelten Gliedmaßen auf das Trauma zurückzuführen waren, das er durch den Verlust seiner Eltern erlitten hatte? Was, wenn sein Zwergwuchs, der ihn definierte, einschränkte, quälte, seinen Ursprung
zwischen
den beiden Müttern hatte, in den Turbulenzen seiner Kleinkindzeit? Es war denkbar. Nein, wahrscheinlich! Nein, es
war
so!
    Und in diesem Fall war Arzee anfangs gar kein Zwerg gewesen, hätte er nicht zum Zwerg werden müssen – erst die Umstände hatten ihn zu einem gemacht! Er hätte so groß werden können wie alle anderen, ein vollwertiger Bürger im Lande der Normalgewachsenen. Doch obwohl er sich anden Tod seiner Eltern nicht erinnerte, war die Erinnerung in seinem Körper erhalten geblieben.
    Die Erinnerung war in seinem Körper! Und sie sprach bis heute – wenn er mit seinen kurzen Fingern Brot brach oder Kleingeld abzählte oder wenn er mit seinen kleinen Händen den Film einlegte. Sie lag in jedem Schritt, den er mit seinen zwei Stummelbeinen tat. Sie lag in seinem zum Rest der Menschheit erhobenen Blick und im steten Bemühen seiner zu kurz geratenen Gliedmaßen. Doch bis heute hatte er nicht die Ohren gehabt, ihr Sprechen zu hören! Der Verlust der Eltern war eine schlichte Tatsache des Lebens. Aber wenn andere Menschen ihre Eltern verloren, waren sie ein, zwei Monate oder allenfalls ein Jahr lang untröstlich, und dann ging das Leben weiter. Er hingegen trauerte bis zum heutigen Tag um seine leiblichen Eltern – war dazu verdammt, immer weiter zu trauern, mit jedem Atemzug seines krüppeligen Herzens. Und wenn er von Kopf bis Fuß, mit seinem ganzen Wesen, von einer verborgenen Trauer durchdrungen war, war es da ein Wunder, dass sein tägliches Leben so gefährlich und so kummervoll war? Ein Leben wie seines hatte garantiert noch nie jemand gelebt. Nur er.
    Das war es, was Mutter all die Jahre so gequält hatte, und jetzt sah Arzee es auch, und er sank in den Sand und weinte wie bei der Beerdigung eines Freundes – weinte um das, was er war, und das, was er hätte sein können. Zum zweiten Mal innerhalb von zwei Tagen brach er unter lauter Fremden zusammen, und wieder scharten sich die Leute um ihn und fragten, was los sei, standen ihm mit Wasser und Worten bei und fragten, ob sie jemanden aus seiner Familie anrufen sollten – jemanden aus seiner Familie! Arzee sagte nichts, konnte nichts sagen, er sprang auf und rannte, rannte davon auf seinen allzeittrauernden Beinen, auf der Suche nach einem Ort, wo ihn niemand mit diesem verspäteten, nutzlosen, elenden Mitleid bedrängen würde, einem Mitleid, das nicht einmal einen Bruchteil dessen erfassen konnte, was er durchlitten

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