Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der kleine Koenig von Bombay

Der kleine Koenig von Bombay

Titel: Der kleine Koenig von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chandrahas Choudhury
Vom Netzwerk:
hatte.
    Und dort, an einem stillen Ort zwischen Felsen, senkte sich die Nacht über ihn herab, und er rollte sich auf dem Sand zusammen, den Kopf auf die Hände gebettet, und nahm Abschied von diesem bitteren Tag.

    Es war Sonntagmorgen. Fast ganz Bombay lag noch im Bett. Doch in der Kirche St. Stephen nahe der Grant Road war schon seit einer knappen Stunde ein Gottesdienst im Gange. Die Gläubigen hatten aus ihren Gebetbüchern gelesen, und jetzt folgten sie etwas unruhig der monotonen Stimme eines Priesters in Soutane, der von der Kanzel predigte. Der Priester schien schon vor langem Frieden, Licht und Wahrheit gefunden zu haben und seither nicht mehr von Zweifeln geplagt worden zu sein; wenn er innehielt, dann nur, um sich mit dem Ärmel die Brille zu polieren. Sonnenstrahlen fielen durch die hohen Buntglasfenster herein und ließen winzige, über den Köpfen der Gemeinde schwebende Lichtstäubchen aufschimmern.
    Plötzlich endete die Predigt. Allseitiges Bibelzuklappen, Räuspern, Recken und Strecken, dann strömte der Großteil der Gläubigen aus der Kirche, und nur ein paar wenige blieben, um ihre Fragen, Sorgen und Sünden vor dem Priester auszubreiten. Einige Leute warfen neugierige Blicke auf einen sehr kleinen Mann, der ganz hinten allein auf einer Bank saß, und zwei Mädchen kicherten über einen Witz auf seine Kosten. Doch Arzee ignorierte sie stoisch, denn sie wussten nicht, was sie taten.
    Warum war Arzee hier? Nicht um mit dem Geist Jesu zu kommunizieren, wie an jenem anderen Weltuntergangstag vor zwei Wochen, sondern im Gedenken an seine lang verstorbenen Eltern – die Eltern, für die er einst ihr Sohn Joseph gewesen war und die, wären sie noch am Leben, eines der heute hier versammelten älteren Paare hätten sein können. So wie er ab und zu im Gedenken an Vater einen Tempel besuchte oder, um Mutters religiösen Gefühlen Achtung zu zollen, ein paar Minuten in einer Moschee verbrachte, schien es Arzee angebracht, in diesen Stunden der Stille und Betäubung, die auf eine lange Nacht der Drangsal und des inneren Aufruhrs gefolgt waren, hier in dieser Kirche zu sein – wenigstens an diesem einen Morgen, wenn auch sechsundzwanzig Jahre zu spät. Er hörte und schaute mit neuem Interesse zu, nahm die Dinge so wahr, wie es seine leiblichen Eltern womöglich getan hätten. Und vielleicht würden ja die Seelen jener Verstorbenen und Verleugneten nun, da er ihnen seine Ehrerbietung erwiesen hatte, endlich in Frieden ruhen. Er hatte so viele Eltern, um die er sich kümmern musste!
    Nach der Verlassenheit, die er in der vergangenen Nacht verspürt hatte, war Arzee dankbar für die vielen Menschen um ihn herum. Dies war seine Zukunft: Unter Menschen zu sein, die er nicht kannte, an Orten, wo man ihn noch nie gesehen hatte. Er war nirgends verwurzelt, und das bisschen, was er gewonnen hatte in seinem wirren, lächerlichen Leben, hatte er unweigerlich wieder verloren, wie ein Narr, dem man Reichtümer anvertraut. Die Wanderschaft rief, sie würde seine Rettung sein. Er hatte das Gefühl, sich von
Personen
, den Gesichtern und Stimmen seiner achtundzwanzig Jahre, wegzubewegen, selbst von seiner Pflegemutter, die doch in gewisser Weise einen Mann aus ihm gemacht hatte, hin zu
den
Leuten
, der namenlosen Masse, der Welt der Anonymen, Wurzellosen. Er würde sich jetzt auf den Heimweg machen, doch falls er unterwegs auf irgendeine andere religiöse Zusammenkunft, politische Kundgebung oder Menschenansammlung stieß, würde er sich dazustellen. Er würde in sich aufnehmen, was die Augen, die Gesichter sagten und wie die Kleider auf den Körpern saßen, er würde die Gefühle und Meinungen zu erfassen suchen, die die Luft in Schwingung versetzten, und dem Geflüster lauschen, das zwischen den einzelnen Personen hin und her ging. Er erkannte, dass sein Leben eine Reise sein würde und es kein Zuhause für ihn gab außer der windschiefen Hütte seines Selbst. Alles war darauf zugelaufen, schon vor dem Tag der Enthüllung – schon vor dem großen Knall hatten eine wachsende Spannung, ein heißes Flüstern in der Luft gelegen, die ihn die ganze Zeit verwirrt hatten, doch jetzt nicht mehr. Der Untergang des Noor! Das Erscheinen Jesu! Deepaks Fragen! Seine Tage als Flasche! Das letzte trotzige Aufbäumen der Erinnerung an seine Zeit mit Monique!
    »Ich werde ganz weit von hier weggehen«, dachte er, und der Blick seiner Knopfaugen war nach innen gekehrt, grüblerisch, versunken.
    »Ich werde allein sein, mir selbst die

Weitere Kostenlose Bücher