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Der kleine Koenig von Bombay

Der kleine Koenig von Bombay

Titel: Der kleine Koenig von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chandrahas Choudhury
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der offen stehende Schrank ins Auge, dessen oberstes Fach, in dem die Alben mit den Familienfotos aufbewahrt wurden, fast leer war. Er machte die Tür ganz auf und sah Mutter auf seinem Bett sitzen. Sie trank Tee und aß Konfekt und tupfte sich die Augen mit ihrem
dupatta
, während sie sich die Fotoalben anschaute.
    Arzee empfand sofort tiefes Mitgefühl mit seiner alten, sorgengeplagten Mutter. Er begriff, dass er die ganze Zeit lauterfalsche Dinge über sie gedacht hatte. Genau wie Mutters Vorstellung von ihm nicht mehr der Realität entsprach, hatte auch er nicht bemerkt, dass sie nicht mehr so war wie früher! Mutter wurde alt. Ihre Kraft ließ nach. Tief in ihrem Innern war sie so einsam und verletzlich wie der alte Phiroz. Und nachdem sie die bedrückende Neuigkeit erfahren hatte, sehnte sie sich nach Vater und dachte an ihrer aller Leben zu viert zurück. Wie Arzee wünschte auch sie sich eine unwiederbringliche Zeit zurück, sie wollte die Welt auf diesen Fotos wiederhaben. Arzee hatte seine Mutter noch nie so erlebt. Es hatte etwas Beunruhigendes, wie sie sich langsam vor- und zurückwiegte und immer wieder das Gleiche vor sich hinmurmelte.
    »Mutter«, sagte er mit zittriger Stimme, während er auf sie zuging.
    Mutter schrak zusammen. »Arzoo! Du!«
    »Nicht weinen, Mutter!«, sagte Arzee. Er legte ihr die Hand auf die Schulter. »Das ist kein Weltuntergang, selbst wenn es so scheint. Alles wird gut. Warum hast du Phiroz angerufen? Ich hätte es dir doch auch selbst gesagt.«
    Mutters Gesicht war ganz zerknittert, ihre Augen waren gerötet, und ihre Haut wirkte wie Papier. Sie sah plötzlich so alt aus. »Ich hoffe, du bist nicht böse auf mich, mein Sohn«, sagte sie mit schwacher, reumütig klingender Stimme. »Ich habe mir einfach solche … solche Sorgen gemacht.«
    »Ich könnte böse auf dich sein, Mutter, aber ich bin es nicht«, sagte Arzee großmütig. »Ich habe dir das alles nur deshalb nicht erzählt, weil ich dir die Traurigkeit ersparen wollte, die du jetzt fühlst. Ich wusste doch, dass du es dir zu Herzen nehmen würdest. Jetzt hast du es halt selbst in Erfahrung gebracht. Aber ich verstehe das, Mutter. Vielleicht hätte ich es an deiner Stelle genauso gemacht. Aber du musst nicht weinen –mehr will ich dir gar nicht sagen. Allen Familien passiert mal etwas Schlimmes.«
    Mutter wandte sich ab und begann zu schluchzen. »Es ist einfach so ungerecht, mein Sohn, es ist so ungerecht! Du hast immer die härtesten Schläge einstecken müssen.«
    »Ich weiß, Mutter, ich weiß. Du verstehst das, und schon allein das ist etwas ganz Besonderes für mich, denn das tut sonst niemand. Mehr bist du mir auch nicht schuldig, Mutter. Wirklich. Der Rest ist mein eigenes Leben. Und wenn ich diese Stadt verlassen will, solltest du nicht versuchen, mich davon abzuhalten.«
    »Arzee, ich – ich hoffe, ich bin dir eine gute Mutter gewesen. Ich hoffe, ich bin dir gerecht geworden. Ach – natürlich nicht! Ich war keine gute Mutter. Mit Mobin bin ich immer besser umgegangen.«
    »Nein, Mutter, nein! Du hast immer ein besonderes Auge auf mich gehabt, das weiß ich. Wenn jemand Grund zur Klage hat, dann Mobin. Du hast mich zu dem gemacht, der ich heute bin, Mutter.«
    »Das Leben hat dich nicht gut behandelt, mein Sohn, schon vom ersten Tag an. Ich habe mein Bestes versucht, aber ich weiß, dass ich versagt habe! Ich kann mein Versprechen nicht halten.«
    »Welches Versprechen, Mutter? Es gibt kein Versprechen. Solche Versprechen kann man im Leben nicht machen. Kinder müssen ihren eigenen Weg finden.«
    »Ich muss dir etwas sagen, Sohn.«
    »Nein, Mutter,
ich
muss
dir
etwas sagen«, widersprach Arzee. »Auch wenn ich dein Sohn bin und du meine Mutter bist, bin ich nicht du, Mutter, und du bist nicht ich. Es ist nicht deine Schuld, dass ich ein Zwerg bin und alle heimlichüber mich lachen. Und es ist auch nicht deine Schuld, dass das Noor schließt, also nimm das nicht auf dich. Ich muss selbst mit meinem Leben fertigwerden, denn ich bin jetzt ein Mann. Ich bin kein Kind mehr, Mutter.«
    Mutters Gesicht war ganz rot geworden. Arzee sagte: »Ich weiß, was du denkst: Dass du jetzt keine Frau mehr für mich finden wirst, weil mich so keine heiraten will. Aber lass uns das einfach mal eine Weile hintanstellen, Mutter. Wenn Mobin heiraten will, nur zu. Ich will ihm nicht im Weg stehen. Und ich sage dir noch was, Mutter. Ich habe es dir nie erzählt, aber ich hätte fast eine Schwiegertochter für dich gefunden. Sie

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