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Der kleine Koenig von Bombay

Der kleine Koenig von Bombay

Titel: Der kleine Koenig von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chandrahas Choudhury
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er auf seinen arthritischen Beinen durch die Wohnung schlurfte und seine Schlussfolgerungen vor sich hinmurmelte. Das plötzliche Verschwinden von Phiroz’ Schnauzbart schien ein Ausdruck seiner Verwundbarkeit zu sein, seiner bösen Vorahnungen angesichts des bevorstehenden Auszugs seiner Tochter und der Schließung des Noor. Phiroz sagte selbst kein Wort, doch der getilgte Schnauzbart sagte alles.
    Wenn er, Arzee, die Stadt verließ, nachdem das Noor zugemacht hatte, wer würde sich dann um Phiroz kümmern? Bestimmt nicht die Jammergestalten vom Noor. Die konnten sich ja nicht mal um sich selbst kümmern. Arzee war in den vergangenen Tagen so mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass er sich diese Frage noch gar nicht gestellt hatte. »Ich werde Phiroz jeden Tag besuchen, zumindest solange ich noch hier bin«, dachte er. »Ich werde zu ihm gehen. Wir werden Tee trinken, Samosas essen und über die alten Zeiten reden, und wenn ihn das froh stimmt, werde auch ich nicht mehr so traurig sein. Morgens Mutter und nachmittags Phiroz, so werde ich das machen.«
    Arzee begriff, dass ihm nur sein Lebensunterhalt genommen wurde. Seine Pflichten und Aufgaben blieben bestehen. Dies war die Last, die auf seinen Schultern ruhte, und man würde ihn danach beurteilen, wie er sie trug.
    Als Arzee keuchend und schwitzend vor Angst das Hausbetrat, war er gedanklich bereits zum Kampf mit seiner anstrengenden Mutter in die Arena gestiegen.
    »Ich weiß, wie sie anfangen wird«, dachte er sich. »Sie wird mit Vaters Tod beginnen und sagen, wie schwierig es war, uns allein aufzuziehen –, wie sehr sie sich auf etwas Ruhe und Frieden gefreut hatte –, dass sie meine Heirat schon fast unter Dach und Fach hatte. Aber nein, wird sie dann sagen – das Leben ist ein ewiger Kampf, und über unserer Familie hängen dunkle Wolken! Nachdem sie das Noor all die Jahre so geliebt hat, wird ihr jetzt wieder einfallen, dass sie eigentlich immer der Ansicht war, ich solle die zwölfte Klasse abschließen und mich um eine Stelle im Staatsdienst bewerben. Und sie wird sofort ins Kino rennen wollen und mit Abjani herumdiskutieren und mich fürchterlich in Verlegenheit bringen. Und dann wird sie versuchen, mich davon zu überzeugen, dass alles in Ordnung ist und niemand uns ein Haar krümmen wird, solange sie am Leben ist. Sie wird davon reden, ihre goldenen Armreife zu verkaufen und ihre Geldanlage aufzulösen. Sie wird sich selbst zum Mittelpunkt der Krise machen, obwohl es eigentlich meine Krise ist – sie wird mich zum Statisten in meiner eigenen Geschichte machen! Und dann wird sie wieder von der Whiskyflasche anfangen, die sie in meinem Zimmer gefunden hat, obwohl die überhaupt nichts damit zu tun hat. Ich werde dastehen wie ein begossener Pudel und mir das alles anhören müssen, und zum Schluss werde ich tun müssen, was sie für richtig hält. Nein! Jetzt oder nie! Wenn ich meinen Plan, die Stadt zu verlassen, nicht auf den Tisch lege, bevor sie mit dieser ganzen langen Leier anfängt, habe ich keine Chance. Ich muss die Situation in die Hand nehmen – ich werde ihren Redefluss stoppen! Ich bin zuerst ein Mann, und dann ihr Kind. Mutter hat keine Ahnung, wasin mir vorgeht. Ich bin nicht der Arzee, mit dem sie zu reden meint – ich bin ein anderer Mensch, und nur ich selbst weiß, wer ich bin.«
    Er schloss vorsichtig die Tür auf. Normalerweise schlief Mutter um diese Zeit, heute jedoch nicht. Das Wohnzimmer, in dem Mutter den ganzen Tag – mit Unterbrechungen zum Kochen – fernsah, Zeitung las und telefonierte, war leer, aber es war eine Art Restgegenwart zu spüren, als wäre Mutter nicht fern. Arzee hörte ein paar kratzende Geräusche in der Küche und schaute dort nach, doch es war nur eine Krähe, die versuchte, durch das Fenstergitter hindurch eine Eierschale zu erreichen. Mutter war also nicht zu Hause. Auf dem Herd stand ein Topf, und als Arzee ihn herunternahm und die Teeblätter darin anfasste, waren sie noch warm. Mutter war doch zu Hause! Im Abfalleimer sah Arzee die Verpackung der Schachtel Konfekt, die Mobin geschenkt bekommen hatte. Die Schachtel war noch verpackt gewesen, als er zur Arbeit gegangen war.
    Er trat wieder aus der Küche und sah, dass die Tür seines eigenen Zimmers nur angelehnt war, und dann hörte er von drinnen ein leises Schniefen, als säße dort eine Kinderversion seiner selbst und weinte wegen eines kaputtgegangenen Spielzeugs oder weil Mobin Geburtstag hatte. Als er hineinlinste, fiel ihm als Erstes

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