Der Kleine Prinz Kehrt Zurück
in allen Himmelsrichtungen ab - vergebens. Also bat ich den kleinen Unbekannten, mir das Gefährt zu zeigen, das ihn auf meinem rettenden Eiland abgesetzt hatte.
Er blickte aus seiner Dreikäsehochperspektive zu mir auf und wiederholte ungerührt seine Frage:»Bist du ein Tigerjäger?«
Das Denken von Kindern folgt ja oft sehr viel gewundeneren Pfaden als das von Erwachsenen. Ich sagte mir also, es würde zu nichts führen, den Bengel vor den Kopf zu stoßen, indem ich ihn zu einer Antwort zwang. Ließe ich mich hingegen auf sein Spiel ein, könnte ich vielleicht sein Vertrauen gewinnen und auf diese Weise etwas aus ihm herausbekommen.
»Nein, ich bin kein Tigerjäger«, sagte ich. »Und wo sind deine Eltern? Sind sie an Bord geblieben?«
Er seufzte tief auf.
»Vermutlich verstehst du auch nichts davon.«
»Leider nein«, sagte ich und unternahm einen neuen Anlauf: »Sollten wir nicht zum Schiff zurückkehren? Deine Mama wird sich Sorgen machen.«
Ich hätte genauso gut zu einer Wand sprechen können.
»Weißt du, ob es hier Tigerjäger gibt?«
Vielleicht war es der Tatsache zuzuschreiben, daß ich mich in Pyjama und Pantoffeln am Ende der Welt, der tropischen zumindest, befand statt zu Hause an meinem Schreibtisch, wo ich in aller Ruhe in einer meiner Landkarten geschmökert hätte jedenfalls stellte diese Fixierung auf Tiger und ihre Verfolger meine Geduld auf eine harte Probe.
Doch er ließ nicht locker.
»Weißt du, ob es hier Tigerjäger gibt?«
»Nein!« brauste ich auf, »hier sind keine! Tigerjäger pflegen sich dort aufzuhalten, wo Tiger leben, und Tiger leben gern im Dschungel, nicht auf so lächerlich kleine n Inseln!«
»Bei mir zu Hause ist alles klein, und Dschungel wächst dort auch nicht«, widersprach er. »Trotzdem wohnt da ein Tiger.«
Diese Auskunft ließ Zweifel in meiner Seele keimen.
»Du bist überhaupt nicht mit dem Schiff gekommen?« vergewisserte ich mich.
»Mit dem Schiff? Du hast vielleicht komische Ideen!« Er lachte aus vollem Hals, wurde aber schnell wieder ernst. »Wenn dir ein Tiger begegnen würde - wie würdest du ihn dann jagen?«
Allem Anschein nach beschäftigte ihn diese Frage, und er würde keine Ruhe geben, solange ich der Sache kein Ende setzte.
»Ich weiß nicht«, erwiderte ich unwirsch. »Ich habe mir noch nie den Kopf darüber zerbrochen.«
»Das ist aber dumm.«
Die Enttäuschung war ihm anzusehen.
Ich bestand nicht weiter auf Erklärungen und machte mich daran, selbst das Geheimnis seiner Ankunft zu lüften. Dieser kleine Knirps konnte doch, verdammt noch mal, nicht vom Himmel gefallen sein, schon gar nicht in Begleitung eines Schafs!
Ich umrundete noch einmal die Insel. Nirgends ein Dampfer, keine Yacht, kein Schoner, keine Schaluppe, kein Dingi, kein Kanu, nicht einmal eine Nußschale. Daraus schloß ich, daß der Sturm, dem ich meinen Aufenthalt an diesem gottverlassenen Gestade verdankte, noch andere Opfer gefordert hatte. Eine solche Prüfung hätte den abgebrühtesten Abenteurer aus der Bahn geworfen. Wahrscheinlich war das der Grund für seine wirren Reden, in denen Tiger eine so hervorragende Rolle spielten.
Ich seufzte bei dem Gedanken, daß die Population der Schiffbrüchigen auf der Insel sich mit einem Schlag verdoppelt hatte, und machte mich dann, von Hunger und Durst geplagt, auf den Weg zur Quelle, den kleinen Prinzen im Schlepptau.
Diesen Ehrentitel hatte ich, obwohl Ihre Erinnerungen, lieber Herr von Saint-Exupery, mir damals noch gänzlich unbekannt waren, meinem Leidensgenossen beigelegt, ohne nachzudenken, weil in seiner Aufmachung, seiner würdevollen Haltung und gepflegten Sprache etwas Aristokratisches lag.
Er wich nicht von meiner Seite, wie ein verirrtes Kind, das sich an den Nächstbesten kla mmert, der einen Anflug von Mitgefühl zeigt und sich die Mühe macht, ihm zuzuhören.
Ich ärgerte mich über meine Unbeherrschtheit. Schließlich konnte er nichts für die Umstände, die uns zusammengeführt hatten. So knüpfte ich, teils aus schlechtem Gewissen, teils aus Neugier, das muß ich zugeben, das Gespräch wieder an.
»Warum willst du einen Tiger töten?« fragte ich.
»Töten? Ich will ihn doch nicht töten! Nur jagen.«
Da wurde mir klar, daß er mit »jagen«
»verjagen« meinte. Ich schämte mich, weil ich, wenn auch nur einen Moment lang, geglaubt hatte, ein Kind könnte einem lebendigen Wesen den Tod wünschen, und sei es so wild wie ein Tiger. Die einzige klägliche Rechtfertigung dafür war ein typischer Fehler der Erwachsenen:
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