Der kleine Vampir (01)
Tür. Draußen steht eine junge, sehr schöne Frau. Sie hat schwarzes Haar, spitze Ohren und sehr rote Lippen. Ihre Stimme ist merkwürdig tief und rau …»
Anna kicherte.
«Er lädt sie ein hereinzukommen, weil er meint, sie müsste völlig durchnässt sein …»
«Natürlich ist sie überhaupt nicht nass, oder?», fragte Anna.
«Nein. Sie ist ganz und gar trocken. Der Mann hat aber einen Hund …»
«Brr!», sagte Anna und schüttelte sich.
«… und dieser Hund», fuhr Anton fort, «stößt bei ihrem Anblick ein derart schauerliches Angstgeheul aus, dass der Mann ihn in den Garten schicken muss.»
«Und dann?», fragte Anna.
«Als der Mann zurückkommt, fragt ihn die Frau nach dem Weg in die Stadt. Er will ihr leuchten und tritt mit der Lampe in der Hand vor die Tür …»
«… aber der Weg ist leer», vollendete Anna.
Leise sprach Anton weiter: «Der Mann hat aber einen Freund. Dem erzählt er von seiner nächtlichen Besucherin. Der Freund warnt ihn und erklärt, die Frau sei ein Vampir. Doch der Mann glaubt ihm nicht. Er bittet ihn nur, den Hund für ein paar Tage zu sich zu nehmen, weil der sich plötzlich in seinem eigenen Haus zu fürchten scheint.»
«Ein Glück!», seufzte Anna. «Vampire mögen nämlich keine Hunde.»
«Am Abend kommt die Frau zum zweiten Mal. Sie geht auf ihn zu und legt ihm ihre eiskalten Hände auf die Schultern. Eine seltsame Trägheit überkommt ihn … als er plötzlich zwischen den Fingern die Bibel spürt!»
«Was?», schrie Anna. «Das erzählst du mir?» Ihre Nasenflügel bebten und sie sah Anton mit heftiger Empörung an.
«Wenn du jetzt noch sagst, dass der Mann den Vampir …»
«… aufgespießt hat, jawohl!», kicherte Anton, der so in seine Geschichte vertieft war, dass er gar nicht merkte, wie sie auf Anna wirkte. «Und willst du wissen, womit?»
«Nein», kreischte sie, «nein!»
«Mit einem Streichholz!», verkündete Anton. «Sie hatte sich nämlich auf einmal in einen Nachtfalter verwandelt und für den genügte ein einfaches, angespitztes Streichholz!»
Erst jetzt guckte er Anna an. Sie sah leichenfahl aus.
«W-was hast du denn?», stotterte er.
«Du – du gemeiner Kerl!», rief sie und Tränen liefen über ihr Gesicht. «Das hast du nur gesagt, um mir Angst zu machen!»
«N-nein, bestimmt nicht!», sagte er erschrocken. «Ich hab gar nicht daran gedacht, dass dich die Sache mit dem Streichholz …»
Aber sie schüttelte nur stumm den Kopf und beschleunigte ihren Flug, sodass Anton ihr nicht mehr folgen konnte.
«Warte doch!», rief er. «Ich hab’s nicht so gemeint. Ich wollte dich nicht ängstigen, wirklich nicht. Entschuldige bitte!»
Doch sie flog weiter und rasch war sie Antons Blicken entschwunden.
Und nun? Sollte er allein zur Gruft weiterfliegen? Aber vielleicht wartete sie dort auf ihn, und wer konnte wissen, zu welchen Schreckenstaten ein empörter Vampir imstande war? Und wenn er nach Hause zurückflog? Aber war das nicht Verrat an Rüdiger, der immerhin mit einer Blutvergiftung im Sarg lag?
Während Anton noch überlegte, sah er einen kleinen Schatten näher kommen. Zuerst erschrak er, aber dann erkannte er Annas Gesicht.
«Ich hab’s mir überlegt», sagte sie leise und schluchzte, «ich bin dir nicht mehr böse. Und du?»
«Ich auch nicht», sagte Anton verlegen.
«Komm, dann fliegen wir», lachte sie und fasste ihn am Arm, «wir sind gleich da!»
Erste Hilfe
Schon sah Anton in der Ferne die Friedhofsmauer. Der Himmel war ganz klar und der Mond leuchtete hell, sodass der Friedhof Anton heute viel weniger düster und unheimlich erschien. Oder lag es daran, dass er nun schon zum dritten Mal hierher kam? Anna flatterte über die Mauer hinweg und ließ sich langsam in das Gras hinuntergleiten. Anton folgte ihr.
«Da vorn ist der Einstieg», flüsterte sie, «aber wir müssen erst warten, ob alles ruhig bleibt.»
Anton nickte. «Ich weiß», sagte er, «der Friedhofswärter.»
«Psst!», zischte sie.
Anton sah die umgestürzten Grabsteine, die das hohe Gras schon fast überwuchert hatte, die alten rostigen Kreuze zwischen dem Gestrüpp und die dunklen Tannen, in deren Schatten der Einstieg zur Gruft lag.
Anna horchte angestrengt. Nach einer Weile stand sie auf.
«Alles in Ordnung», sagte sie, «wir können gehen.»
«Willst du nicht vielleicht – vorgehen?», fragte Anton. Er hatte plötzlich ein Gefühl im Magen, als hätte er tagelang nichts gegessen.
Anna sah ihn überrascht an.
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