Der kleine Vampir (01)
so.» Damit hatte Anton nicht gerechnet. «Und bist du schon – ich meine, hast du auch ein Grab?»
Der Vampir kicherte. «Kannst mich ja mal besuchen, wenn du willst. Aber erst nach Sonnenuntergang. Tagsüber schlafen wir.»
«Weiß ich alles», protzte Anton. Endlich konnte er mal zeigen, was er alles über Vampire wusste. «Wenn Vampire an die Sonne kommen, sterben sie. Deshalb müssen sie sich nachtsauch immer so beeilen, damit sie vor Sonnenaufgang wieder im Grab sind.»
«Kluges Bürschchen», sagte der Vampir giftig.
«Und wenn man weiß, wo einer liegt, muss man ihm einen Holzpfahl durchs Herz jagen!», fuhr Anton fort.
Das hätte er lieber nicht sagen sollen, denn der Vampir brach in ein markerschütterndes Gebrüll aus und fuhr auf Anton los. Aber Anton war schneller. Blitzschnell kroch er unter dem Schreibtisch durch und raste zur Tür, dicht gefolgt von dem wutschnaubenden Vampir. Kurz vor der Tür hatte ihn der Vampir eingeholt.
Jetzt ist es aus, dachte Anton, jetzt beißt er zu! Er zitterte am ganzen Körper. Der Vampir stand vor ihm und schnappte nach Luft. Seine Zähne machten ihr grässliches Klick-Klack, und seine Augen glühten wie feurige Kohlen. Er packte Anton und schüttelte ihn.
«Wenn du noch einmal mit dem Holzpfahl anfängst», kreischte er, «kannst du dein Testament machen, verstanden?»
«J-ja», stammelte Anton, «ich w-wollte dich auch gar nicht ärgern, bestimmt nicht.»
«Setz dich», kommandierte der Vampir barsch. Anton gehorchte, und der Vampir begann im Zimmer auf und ab zu gehen.
«Und was mach ich jetzt mit dir?», rief er.
«Wir könnten ja Platten hören», schlug Anton vor.
«Nein!», schrie der Vampir.
«Oder Malefiz spielen.»
«Nein!!»
«Oder soll ich dir meine Postkarten zeigen?»
«Nein, nein und nochmals nein!»
«Dann weiß ich auch nichts», sagte Anton ratlos.
Der Vampir war vor dem King-Kong-Poster stehen geblieben.Ein wilder Schrei entfuhr ihm. «Dieser Affe», brüllte er, riss das Bild von der Wand und zerfetzte es in tausend kleine Schnipsel.
«Das ist gemein», protestierte Anton, «mein Lieblingsposter.»
«Na und?», zischte der Vampir. Jetzt hatte er die King-Kong-Bücher im Regal entdeckt, und Seite für Seite flatterte, mitten durchgerissen, auf das Bett.
«Meine Bücher», heulte Anton, «alle vom Taschengeld gekauft.»
Plötzlich hielt der Vampir inne – ein zufriedenes Lächeln erschien auf seinem Gesicht.
«‹Dracula› …», las er halblaut, «mein Lieblingsbuch!» Er sah Anton mit strahlenden Augen an. «Kann ich das mal leihen?»
«Meinetwegen. Aber wiederbringen, verstanden?»
«Na klar.» Zufrieden stopfte er das Buch unter den Umhang. «Übrigens, wie heißt du eigentlich?»
«Anton. Und du?»
«Rüdiger.»
«Rüdiger?» Fast hätte Anton laut losgeprustet, aber er konnte sich gerade noch beherrschen. Schließlich wollte er den Vampir nicht noch einmal in Wut bringen.
«Ist aber ein hübscher Name», sagte er.
«Findest du?», fragte der Vampir.
«Wirklich. Und so passend.»
Der Vampir sah sehr geschmeichelt aus. «Anton ist aber auch ein hübscher Name.»
«Find ich überhaupt nicht», sagte Anton, «in der Schule lachen sie immer. Aber mein Vater heißt auch Anton, weißt du.»
«Ach so.»
«Und mein Opa hieß auch schon Anton. Als ob mich das interessiert.»
«Eigentlich fand ich Rüdiger bisher auch immer ziemlich doof», sagte der Vampir. «Aber man gewöhnt sich.»
«Ja, man gewöhnt sich», seufzte Anton.
«Sag mal, bist du öfter so allein zu Haus?», fragte der Vampir.
«Jeden Samstag.»
«Und hast du gar keine Angst?»
«Doch.»
«Ich auch. Besonders im Dunkeln», erklärte der Vampir. «Mein Vater sagt immer: ‹Rüdiger, du bist kein Vampir, du bist ein Hasenfuß!›» Sie sahen sich an und lachten.
«Ist dein Vater auch Vampir?», fragte Anton.
«Na klar!», sagte der Vampir. «Was denkst du denn?»
«Und deine Mutter auch?»
«Natürlich. Und meine Schwester und mein Bruder undmeine Oma und mein Opa und meine Tante und mein Onkel …»
«Hilfe», rief Anton, «deine ganze Familie?»
«Meine ganze Familie!», sagte der Vampir voller Stolz.
«Meine Familie ist ganz normal», meinte Anton traurig. «Mein Vater ist im Büro, meine Mutter ist Lehrerin, Geschwister hab ich keine – kannst dir vorstellen, wie langweilig es bei uns ist.»
Der Vampir sah ihn mitleidig an. «Bei uns ist immer was los.»
«Was denn? Erzähl doch mal!» Endlich würde er eine echte
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