Der kleine Vampir (01)
etwas ganz, ganz anderes.»
«So?», sagte der Vater spöttisch.
«Jawohl», erwiderte Anton, «und wer denkt, dass es Vampire nur in Büchern gibt …» – «oder beim Fasching», kicherte die Mutter –, «der ist entweder blind oder taub», fuhr Anton mit erhobener Stimme fort, machte dann eine Pause und sagte schließlich leise und geheimnisvoll: «Oder sehr, sehr leichtsinnig!»
«Du machst mir ja richtig Angst», lachte die Mutter.
«Nur komisch, dass uns noch nie einer begegnet ist, was?», wandte sich der Vater an die Mutter.
«Ach», sagte Anton vergnügt, «das geht manchmal schneller, als unsereins denkt.»
«Wirklich?», rief die Mutter in gespieltem Erschrecken.
«Ihr werdet schon sehen», sagte Anton und steckte sich den Rest seines Brotes in den Mund.
«Ich sehe nur, dass meine Tasse leer ist», lachte die Mutter, «gieß mir doch bitte noch Tee ein, Anton.»
Der Vater stand auf und holte die Kanne. Während er einschenkte, sah er die Mutter augenzwinkernd an. Euch wird das Lachen schon vergehen!, dachte Anton. Zufrieden lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und dachte an den kommenden Samstag.
Der geheimnisvolle Zipfel
Der nächste Samstag begann wie gewöhnlich. Nach dem Frühstück ging der Vater zum Einkaufen. Die Mutter hatte sich die Haare gewaschen, und nun war sie damit beschäftigt, die Trockenhaube aufzustellen. Anton half ihr dabei.
«Geht ihr wieder ins Kino?», fragte er betont uninteressiert, während er das Verlängerungskabel in die Steckdose hinter dem Sofa steckte.
«Kann sein», sagte die Mutter, «aber vielleicht muss Vati auch noch einmal ins Büro.»
«Ins Büro?», rief Anton entgeistert.
«Na ja», sagte die Mutter und zog sich die Haube über den Kopf, «lass ihn doch. Ich kann auch ohne ihn ins Kino gehen.»
«Ach so», sagte Anton erleichtert. Bei dem Gedanken, dass die Mutter zu Hause bleiben könnte, war es ihm kalt denRücken hinuntergelaufen, denn schließlich erwartete er Besuch!
Die Mutter hatte inzwischen die Haube eingeschaltet, und vor dem jetzt einsetzenden Getöse flüchtete sich Anton in sein Zimmer, wo er schon alles für den nächtlichen Besucher vorbereitet hatte. Aus dem Bücherregal waren sämtliche Bücher verschwunden, die dem Vampir hätten missfallen können: die letzten zwei King-Kong-Bände, die Tarzan-Hefte und die Bücher von Superman. Dafür standen dort jetzt zwei neue Bücher: das eine, auf dessen schwarzem Umschlag eine riesige Fledermaus zu sehen war, trug in leuchtend roten Buchstaben den Titel «Vampire – die zwölf schrecklichsten Geschichten». Das andere, mit einem lila Einband, hieß «Draculas Rache». Beide Bücher hatte Anton so aufgestellt, dass der Vampir sie auf jeden Fall bemerken musste. Am Schrank hing ein Poster, das Anton noch gestern Abend selbst gemalt hatte. Es zeigte einen Vampir, der sich soeben aus dem Grab erhob. Besonders gelungen fand Anton das totenbleiche Gesicht mit den schwarz umschatteten Augen und dem roten, schon halb geöffneten Mund, aus dem die Eckzähne spitz wie Messer hervorstanden.
«Iiieh!», hatte die Mutter gerufen, als sie das Bild entdeckte. «Musst du solche scheußlichen Sachen malen?»
«Wieso scheußlich?», hatte Anton geantwortet, während er vorsichtig mit etwas Deckweiß die Zähne übermalte, damit sie noch stärker leuchteten.
«Sieh dir doch das Gesicht an!», hatte die Mutter gerufen. «Davon kannst du ja Alpträume kriegen!»
Dem Vampir wird es schon gefallen, hatte sich Anton getröstet.
Zufrieden betrachtete er nun sein Werk. Auch die Grabhügel im Hintergrund, mit ihren windschiefen Grabsteinen und Kreuzen, verbreiteten eine wundervoll gruselige Stimmung!
Vielleicht sollte er noch ein paar Fledermäuse hinzufügen? Allerdings waren sie schwierig zu malen. Er nahm das Buch mit den zwölf schrecklichsten Vampirgeschichten aus dem Regal und besah sich die Fledermaus auf dem Umschlag. Widerlich war sie, und zu seinem Bild passte sie auch … aber Anton verschob die Entscheidung darüber lieber auf morgen und legte sich erst einmal gemütlich auf sein Bett.
Die erste Geschichte aus dem Buch hatte er schon gestern angefangen zu lesen. Sie handelte von einem Kostümfest, auf dem die Gäste in allen nur denkbaren Verkleidungen erschienen waren – und einer war als Vampir gekommen. Sein Kostüm war so gut, dass alle vor ihm zurückwichen und sich fürchteten. Als um Mitternacht die Kostüme abgelegt werden sollten, blieb er so, wie er war, und plötzlich
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