Der Klient
Blick abzuwenden.
»Vor vierzig Jahren«, sagte sie langsam, fast traurig. »Damals waren wir alle noch jung und glücklich.« Sie stand neben ihm, ihre Arme berührten sich, Schulter an Schulter.
»Wo sind die Jungen?«
»Joey, rechts, war der Älteste. Er war Testpilot bei der Air Force und ist 1964 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Er ist ein Held.«
»Es tut mir sehr leid«, flüsterte Mark.
»Bennie, links, ist ein Jahr jünger als Joey. Er ist Meeresbiologe in Vancouver. Er kommt seine Mutter nie besuchen. Vor ungefähr zwei Jahren war er über Weihnachten hier, dann ist er wieder verschwunden. Er hat nie geheiratet, aber ich denke, er ist okay. Auch von ihm keine Enkelkinder. Reggie hat die einzigen Enkel.« Sie griff nach einem Rahmen, der neben einer Lampe auf einem Beistelltisch stand, und gab ihn Mark. Zwei Graduierungsfotos mit blauen Roben und Mützen. Das Mädchen war hübsch. Der Junge hatte strähniges Haar, einen Teenagerbart und einen haßerfüllten Ausdruck in den Augen.
»Das sind Reggies Kinder«, erklärte Momma Love ohne den geringsten Anflug von Stolz oder Liebe. »Als wir das letzte Mal von dem Jungen hörten, war er im Gefängnis. Hat mit Drogen gehandelt. Er war ein guter Junge, als er klein war, aber dann hat sein Vater ihn bekommen und ihn ruiniert. Das Mädchen ist in Kalifornien und versucht sich als Schauspielerin oder Sängerin oder so etwas, aber sie hat auch Drogenprobleme gehabt, und wir wissen nicht viel von ihr. Sie war auch ein reizendes Kind. Ich habe sie seit fast zehn Jahren nicht mehr gesehen. Kannst du dir das vorstellen? Meine einzige Enkelin. Es ist ein Jammer.«
Momma Love trank jetzt ihr drittes Glas Wein, und die Zunge hatte sich gelöst. Wenn sie lange genug über ihre Familie geredet hatte, würde sich das Gespräch schon auf seine lenken lassen. Und wenn sie mit den Familien fertig waren, würden sie vielleicht darüber reden, was in aller Welt die Jungen dort draußen gesehen hatten.
»Weshalb haben Sie sie seit zehn Jahren nicht mehr gesehen?« fragte Mark, aber nur, weil er irgend etwas sagen mußte. Es war wirklich eine blöde Frage; er wußte, daß die Antwort Stunden dauern konnte. Sein Magen schmerzte von der Schwelgerei, und er sehnte sich danach, sich einfach auf die Couch zu legen und in Ruhe gelassen zu werden.
»Regina – ich meine Reggie – hat sie genau so lange nicht mehr gesehen. Sie machte diesen Alptraum von einer Scheidung durch, er war hinter anderen Frauen her und hatte Freundinnen überall in der Stadt, sie erwischten ihn sogar mit einer hübschen kleinen Schwester im Krankenhaus, aber die Scheidung war ein grauenhafter Alptraum, und Reggie kam an einen Punkt, wo sie alledem nicht mehr gewachsen war. Joe, ihr Ex-Mann, war ein netter Kerl, als sie heirateten, aber dann scheffelte er einen Haufen Geld und spielte den großen Doktor. Er veränderte sich. Das Geld stieg ihm zu Kopf.« Sie hielt inne und trank einen Schluck. »Fürchterlich, einfach fürchterlich. Aber sie fehlen mir. Sie sind meine einzigen Enkelbabies.«
Sie sahen nicht aus wie Enkelbabies, vor allem der Junge nicht. Er war nur ein kleiner Ganove.
»Nun ja.« Sie seufzte, als müßte sie sich ernsthaft zum Reden überwinden. »Er war sechzehn, als sein Vater ihn bekam, schon damals wild und verdorben, ich meine, sein Vater war Frauenarzt und hatte nie Zeit für die Kinder, und ein Junge braucht seinen Vater, meinst du nicht auch? Und der Junge, Jeff heißt er, der war schon früh nicht mehr unter Kontrolle zu halten. Dann sorgte sein Vater, der das ganze Geld und all die Anwälte hatte, dafür, daß Regina fortgebracht wurde, und nahm die Kinder, und als das passierte, konnte Jeff praktisch tun und lassen, was er wollte. Mit dem Geld seines Vaters natürlich. Er schaffte mit knapper Not die High School, und sechs Monate später wurde er mit einer Ladung Drogen erwischt.« Sie brach plötzlich ab, und Mark dachte, daß sie gleich weinen würde. Sie trank einen Schluck. »Das letzte Mal habe ich ihn gesehen, als er seinen High-School-Abschluß machte. Ich habe sein Foto in der Zeitung gesehen, als er verhaftet worden war, aber er hat nie angerufen oder so etwas. Das ist jetzt zehn Jahre her. Ich weiß, ich werde sterben, ohne sie wiedergesehen zu haben.« Sie rieb sich rasch die Augen, und Mark suchte nach einem Loch, in das er sich verkriechen konnte.
Sie nahm seinen Arm. »Komm mit. Wir gehen auf die Veranda.«
Er folgte ihr durch eine schmale Diele und
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