Der Knochendieb
Brooklyn hergekommen, um auf ihrem Zeichenblock ein Porträt für uns zu zeichnen. Möchten Sie sich nicht einfach zu ihr rübersetzen und Ihre Erinnerung anzapfen?«
»Sie ist wirklich’ne Hübsche«, kicherte Heath.
»Unbedingt. Aber jetzt möchte sie Ihnen ein paar Fragen stellen.«
»Ich hab aber weiter nix zu sagen.«
»Was hatte er denn für Haare?«, fragte Kelly Gilmore. »Waren sie lockig? Oder glatt? Lang? Kurz?«
»Haare sind Haare. Sie waren oben am Kopf.«
»Sie müssen mir beim Zeichnen helfen. Ich war ja nicht dabei.«
»Ich schon, Lady, aber es war dunkel.«
»Sie meinen sein Haar?«
»Kommen Sie, Lady. Es war finster wie in einem Hexenarsch.«
Driscoll verlor langsam die Geduld. Vielleicht sollte er es mit einem anderen Ansatz versuchen. »Lassen Sie’s,
Kelly! Der Zeuge ist die reine Zeitverschwendung. Wir haben Besseres zu tun, als hier rumzusitzen und uns sein arrogantes Gerede anzuhören. Der gute Mann hat überhaupt nichts gesehen. Er ist blind wie eine Made und riecht sogar wie eine.«
»Nicht so frech, Ire«, höhnte Heath und funkelte Driscoll finster an.
»Ich verschwinde«, knurrte Driscoll.
»Warten Sie auf mich«, rief Kelly Gilmore und packte ihre Kreiden zusammen.
»Ba dhuthchas riamh d’ar gcine chaidh gan iompail siar o imirt air!«, brüllte Heath auf Altirisch.
»Was krakeelt er da?«, fragte Kelly Gilmore, während sie mit Driscoll hinausging.
»Etwas aus der irischen Nationalhymne«, antwortete Driscoll. Seine Worte waren auch drinnen noch zu vernehmen.
»Hey! Ich bin noch nicht fertig«, polterte Heath. »Euer Mann ist einer von uns.«
Versuchte der Säufer, Driscoll zu ködern, oder hatte der Mann wirklich etwas zu bieten? Der Lieutenant trat zurück ins Zimmer. »Führen Sie mich bloß nicht hinters Licht«, warnte er.
»Er ist einer von uns«, wiederholte Heath seufzend. »Schande über ihn. Ein Mann aus Erin.«
»Was macht Sie so sicher, dass er Ire ist?«
»Also, ob er blaue Augen hat, hab ich natürlich nicht gesehen«, brummte Heath, »aber sein gälisches Gefasel sagt mir, dass dieser Verbrecher in Sligo geboren und aufgewachsen ist.«
»Der Alkohol spielt dem Verstand manchmal Streiche, wissen Sie.«
»Mein Verstand funktioniert einwandfrei. Ich bin nämlich selbst in Sligo geboren und aufgewachsen.«
Blitzartig begriff Driscoll, dass er auf seine erste handfeste Spur gestoßen war. Hier, in den Fluren einer psychiatrischen Klinik, hatte er den ersten Zeugen einer wahnsinnigen Mordtat gefunden. »Was hat Ihr Freund aus Sligo denn gesagt?«, fragte er zögerlich.
»Er hat gebetet. Er kniete einfach da und betete.«
»Ein Priester?«, fragte Kelly.
»Guter Gott, nein. Er hat auf Altirisch über seinem Mordopfer gebetet.«
»Heath, können Sie sich noch an das Gebet erinnern?«, hakte Driscoll nach.
»Das werd ich nie vergessen.«
Der Alte nahm die Pose des Mörders ein und begann mit langsamen Bewegungen, als wäre es ihm ein Genuss, sein imaginäres Opfer aufzuschlitzen. »Don ghrian agus don ghealach agus do na realtoga!«, deklamierte er.
32. KAPITEL
»Don ghrian agus don ghealach agus do na realtoga«, las Seamus Tiernan, der Dekan des Instituts für Keltische Studien der Columbia-Universität. »Für die Sonne, den Mond und die Sterne, Lieutenant.«
Büsten von Kelten und alten Briten mit Schilden und Streitäxten wachten über das Büro des Gelehrten.
»Druidisch, fünftes Jahrhundert vor Christi, eine zeremonielle Anrufung. Wahrscheinlich für Opferungen benutzt«, erklärte Tiernan.
»Schafe und Ziegen?«, fragte Driscoll.
»Hähne … und Säuglinge. Echte Heiden. Sie sahen ihre Kinder als ihren Besitz an, den sie nach Gutdünken opfern konnten. Ja, Lieutenant, das waren die letzten Atemzüge des Heidentums in Nordeuropa. Das Christentum hat dem ein Ende gemacht.«
»Werden Sie jetzt nostalgisch?«, fragte Driscoll mit hochgezogener Braue.
»Sie haben Ihren Beruf verfehlt, Lieutenant. Sie hätten statt der Polizeischule das Priesterseminar besuchen sollen.«
Den Ton kannte Driscoll. Er hatte ihn schon oft gehört. Es war der Ton von jemandem, für den die Polizei ein notwendiges Übel war. Eine Einrichtung, die man rief, wenn einem das Autoradio geklaut worden war. Die Einstellung war unter Ostküsten-Intellektuellen weit verbreitet.
»Professor Tiernan, ich habe noch mehr Fragen.«
»Tut mir leid, Lieutenant, aber ich muss Arbeiten benoten.«
»Sagen Sie mal, Professor, sind in Ihrer Welt Noten wichtiger als
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