Der Knochendieb
so gut ich kann«, sagte Mrs. Benjamin. »Sarah hätte es so gewollt.«
Diese Antwort beruhigte Margaret. Die Frau hatte offenbar keinerlei Vorbehalte. Und es war deutlich zu spüren, dass sie und das Opfer sich sehr nahe gestanden hatten.
»Hat Ihre Schwiegertochter Ihnen gesagt, wohin sie am Freitagabend wollte?«
»Zu ihrem Konzertsaal. Sarah war Geigenlehrerin. Ihre Klasse hatte für Sonntag einen Auftritt geplant - Beethoven. Sie wollten das ganze Wochenende proben, von Freitagabend bis Sonntag. Deshalb hat sie Robbie zu mir gebracht. Sie wollte ihn nach dem Konzert am Sonntag wieder abholen. Als sie nicht gekommen ist, habe ich im Konzertsaal angerufen. Als ich erfuhr, dass sie gar nicht dort gewesen ist, wusste ich sofort, dass etwas passiert
war. Aber es hätte doch nie jemand gedacht …« Ihre Stimme brach.
Margaret musste gegen den Drang ankämpfen, die Hand der Frau zu nehmen. Sie hatte im Laufe ihres Berufslebens schon Hunderte trauernder Angehöriger befragt, doch das Mitgefühl war immer da gewesen. So stolz sie das auch machte, sie war dennoch stets objektiv und professionell geblieben und hatte ihre Emotionen unterdrückt.
»Es tut mir leid, dass ich Ihnen die nächste Frage stellen muss.«
»Nur zu. Ich will Ihnen helfen, so gut ich kann.«
»Wie war Sarahs Beziehung zu ihrem getrennt lebenden Mann, Ihrem Sohn?«
»Mein Sohn ist ein Schuft.«
Diese Antwort verwunderte Margaret, doch sie fand es erfrischend, eine Frau zu befragen, die bereitwillig ganz offen mit jemandem sprach, den sie nie zuvor gesehen hatte. Margaret musste schmunzeln, als Mrs. Benjamin fortfuhr. »Aber Sarah hat nie aufgehört, ihn zu lieben. Nicht einmal nach der Scheidung. Er war der einzige Mann, den sie je geliebt hat. Sie hat stets auf eine Versöhnung gehofft.«
»Wussten Sie viel über ihr Privatleben?«
»Ihre Musik hat ihr enorm viel bedeutet. Das weiß ich genau.«
Auf einmal kam ein schluchzendes Kind in den Raum gestürmt und warf sich in die Arme der älteren Frau.
»Mein Enkel Robbie ist jetzt praktisch ein Waisenkind«, sagte Mrs. Benjamin und wiegte den Kleinen in den Armen.
Verstohlen warf der Junge Margaret einen Blick zu.
»Robbie, wo ist deine Mommy denn hingefahren, nachdem sie dich hier abgesetzt hat?«, fragte Margaret.
Der Junge vergrub den Kopf in den Armen seiner Großmutter.
Margaret zückte ihre Dienstmarke und hielt sie dem Kleinen hin. Er hob erneut den Kopf.
»Siehst du den Indianer auf meiner Dienstmarke?«, fragte sie.
Feuchte Augen suchten die Plakette ab, ehe ein zartes Fingerchen auf den Manhattan-Indianer zeigte.
»Soll ich dir die Dienstmarke mal anstecken?«
Der Junge nickte.
»Hiermit ernenne ich dich zum Hilfspolizisten Robbie Benjamin«, erklärte Margaret und befestigte die Plakette an Robbies Hemd.
Mrs. Benjamin lächelte.
»Bin ich jetzt ein richtiger Polizist?«, fragte der Junge und zupfte Margaret am Ärmel.
»Ja. Jetzt ist es offiziell.«
»Darf ich es meinen Freunden erzählen?«
»Sicher.«
»Krieg ich auch eine Pistole?«
»Wofür?«
»Damit ich die Bösen erschießen kann.«
»Tja, Officer Benjamin, mal sehen, was ich tun kann.«
»Und einen Piepser auch?«
»Einen Piepser?«
»Einen blauen.«
»Warum einen blauen?«
»So einen wie den, den ich gefunden habe.«
»Wo hast du den gefunden?«
»Im Einkaufszentrum. Er piepst, wenn jemand mit einem reden will, so wie der Mann, der uns im Auto angepiepst hat.«
»Was für ein Mann?« Margaret durchzuckte ein Adrenalinstoß.
»Der Mann, mit dem Mommy geredet hat.«
»Deine Mommy hat mit einem Mann geredet?«
Margaret und Mrs. Benjamin sahen sich an.
»Mommy hat vom Auto aus auf ihrem Klapptelefon jemanden angerufen.«
»Weißt du noch, was deine Mommy am Telefon gesagt hat?«, hakte Margaret nach.
Der Kleine zuckte die Achseln.
»Wo ist der Piepser jetzt?«
»Mommy hat ihn genommen, als sie den Mann vom Auto aus angerufen hat.«
»Mrs. Benjamin, hatte Sarah ein Mobiltelefon?«
»Ja.«
»Ich brauche die Nummer.«
»Aber sicher. Sie lautet 917-288-1274.«
48. KAPITEL
Driscoll lauschte aufmerksam, während Margarets Stimme knisternd durch den Lautsprecher seines Autotelefons kam.
»Die Verbindungsdaten belegen, dass der letzte Anruf von Sarah Benjamins Handy neun Minuten gedauert hat. Er ging zu einem Münztelefon im Erdgeschoss des Einkaufszentrums Kings Plaza in Brooklyn.«
»Eine Sackgasse«, murmelte Driscoll. Er bog rechts
von der Eighth Avenue ab und hielt am Straßenrand vor
Weitere Kostenlose Bücher