Der Knochenjäger
Bewußtsein ausharren, wäre aber völlig bewegungsunfähig. Und solange mein Gehirn nicht tot ist, wird kein Mensch auf dieser Welt den Stecker ziehen. Jetzt bin ich wenigstens noch dazu in der Lage, meine Entscheidungen kundzutun.«
»Aber warum?« rief sie aus.
»Warum nicht?« erwiderte Rhyme. »Sagen Sie's mir. Warum nicht?«
»Na ja ...« Ihrer Meinung nach waren die Argumente, die gegen einen Selbstmord sprachen, so eindeutig, daß es ihr schwerfiel, sie zu formulieren. »Weil...«
»Warum, Sachs?«
»Erstens ist es feige.«
Rhyme lachte. »Wollen wir darüber diskutieren, Sachs ? Wirklich ? Von mir aus. >Feige<, sagen Sie. Damit wären wir bei Sir Thomas Browne: > Wenn das Leben schrecklicher ist denn der Tod, ist es wahrhaft wagemutig zu leben.< Mut auch im Angesicht unüberwindlicher Härten - ein klassisches Argument für das Leben. Aber wenn es zutrifft, warum betäubt man dann Patienten vor der Operation? Warum gibt es Aspirin ? Warum richtet man einen gebrochenen Arm? Warum ist Prozac das meistverschriebene Medikament in Amerika? So leid es mir tut, aber der Schmerz an sich besitzt keinerlei Reiz.«
»Aber Sie haben doch keine Schmerzen.«
»Und wie wollen Sie Schmerz definieren, Sachs ? Vielleicht ist auch die Unfähigkeit, irgend etwas zu spüren, überaus schmerzhaft.«
»Sie könnten noch so viel beitragen. Nehmen wir doch bloß mal Ihr ganzes Wissen. Wie Sie sich mit Kriminalistik auskennen, mit Geschichte.«
»Das Argument zum Nutzen der Gesellschaft. Ein beliebter Einwand.« Er warf einen Blick zu Berger, doch der Doktor blieb stumm. Rhyme sah, daß ihn offenbar der Knochen interessierte, der auf dem Tisch lag - dieses bleiche Stück Wirbelsäule. Er hob ihn hoch, strich mit den gefesselten Händen darüber. Immerhin war er einst Orthopäde gewesen, entsann sich Rhyme.
Er wandte sich wieder an Sachs. »Aber wer sagt denn, daß wir noch etwas beitragen müssen? Außerdem könnte das, was ich beitrage, auch schädlich sein. Könnte Leid verursachen. Mir und anderen Menschen.«
»So ist das Leben nun mal.«
Rhyme lächelte. »Aber ich wähle den Tod, nicht das Leben.«
Sachs wirkte einen Moment lang unsicher, dachte scharf nach. »Bloß daß ... der Tod nichts Natürliches ist. Das Leben schon.«
»Nein? Freud würde Ihnen da widersprechen. Er stellte der Libido später eine andere, entgegengesetzte Antriebskraft zur Seite - den Todestrieb, wie er ihn bezeichnete, der die Bindungen löst, die wir im Leben eingehen. Unser Ende unterliegt durchaus natürlichen Kräften. Jeder und alles stirbt - was sollte also natürlicher sein?«
Wieder kratzte sie sich die Kopfhaut wund.
»Na schön«, sagte sie. »Das Leben fordert Sie also mehr als die meisten anderen Menschen. Aber ich dachte ... alles, was ich bisher mit Ihnen erlebt habe, sagt mir, daß Sie jemand sind, der die Herausforderung liebt?«
»Die Herausforderung? Ich will Ihnen mal was von Herausforderungen erzählen. Ich wurde ein Jahr lang künstlich beatmet. Sehen Sie die Narbe an meinem Hals? Die ist vom Lüftröhrenschnitt. Nun ja, mittels Atemtechnikübungen - und äußerster Willenskraft - habe ich es geschafft, mich, wie man das nennt, von der Maschine zu >entwöhnen<. Genaugenommen habe ich eine wahre Pferdelunge. Sie ist genauso kräftig wie Ihre. Bei einem Querschnittsgelähmten ist das außergewöhnlich. Es hat mich acht Monate meines Lebens gekostet. Verstehen Sie, worauf ich hinauswill? Acht Monate, um eine normalerweise selbstverständliche Körperfunktion zu beherrschen. Es geht nicht darum, die Sixtinische Kapelle auszumalen oder Geige zu spielen. Ich spreche vom reinen, nackten Atmen.«
»Aber Ihr Zustand könnte sich bessern. Vielleicht entdeckt man in einem Jahr eine Heilmethode.«
»Nein. Weder in einem noch in zehn Jahren.«
»Das können Sie doch gar nicht wissen. Es wird bestimmt geforscht ...«
»Natürlich. Und wissen Sie was? Ich bin ein Fachmann auf diesem Gebiet. Man hat versucht, das Nervengewebe von Embryonen auf die geschädigten Rückenmarkstränge zu verpflanzen, um so die Regeneration anzuregen.« Leicht gingen ihm die Worte von den Lippen. »Ohne jede Wirkung. Manche Ärzte behandeln den betroffenen Bereich chemotherapeutisch, um einen Zustand herzustellen, in dem sich Nervenzellen regenerieren können. Bislang ohne Ergebnis - jedenfalls nicht bei höheren Lebewesen. Bei niederen Lebensformen kann man durchaus Erfolge vorweisen. Wenn ich ein Frosch wäre, könnte ich längst wieder gehen. Nun
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