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Der Knochenjäger

Titel: Der Knochenjäger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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sie reglos in der Tür standen. Totenstille herrschte im Zimmer. Sie drehte sich um und blickte zu ihm.
    »Der Tod ist ein Mittel gegen die Einsamkeit«, fuhr Rhyme fort.
    »Ein Mittel gegen Verspannungen. Ein Mittel gegen den Juckreiz.« Er warf einen kurzen Blick auf ihre wunden Finger, genauso, wie sie tags zuvor auf seine Beine geschaut hatte.
    Sie ließ Bergers Handschellen los und ging zum Fenster. Tränen glitzerten im gelben Schein der Straßenlaternen auf ihren Wangen.
    »Sachs, ich bin müde«, sagte er ernsthaft. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie müde ich bin. Sie wissen doch, wie schwer das Leben ohnehin ist. Nehmen Sie dazu noch eine ganze Menge ... Anstrengungen. Waschen, essen, kacken, Anrufe erledigen, Hemden zuknöpfen, sich an der Nase kratzen ... Dann nehmen Sie noch tausenderlei Dinge mehr dazu. Und danach noch mehr.«
    Er schwieg. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie antwortete. »Ich mache Ihnen ein Angebot.«
    »Und zwar?«
    Sie nickte zu dem Poster hin. »Nummer 238 hat die Frau mit dem kleinen Mädchen ... helfen Sie uns, sie zu retten. Bloß diese beiden. Wenn Sie das machen, laß ich Sie eine Stunde mit ihm allein.« Sie blickte zu Berger. »Vorausgesetzt, er verschwindet hinterher schleunigst aus der Stadt.«
    Rhyme schüttelte den Kopf. »Sachs, wenn ich einen Schlaganfall erleide, wenn ich mich nicht mehr mitteilen kann ...«
    »Wenn das passiert«, sagte sie ruhig, »gilt die Abmachung trotzdem, auch wenn Sie kein Wort mehr sagen können. Ich sorge dafür, daß Sie eine Stunde unter sich sein können.« Sie verschränkte die Arme, stellte sich wieder breitbeinig hin - so hatte Rhyme Amelia Sachs mittlerweile am liebsten. Er wünschte, er hätte sie gestern morgen gesehen, als sie auf den Bahngleisen gestanden und den Zug angehalten hatte. »Das ist das Äußerste, was ich tun kann.«
    Einige Sekunden verstrichen. Rhyme nickte. »Na schön. Abgemacht.« Er wandte sich an Berger. »Montag?«
    »Gut, Lincoln. Von mir aus.« Berger, der immer noch sichtlich mitgenommen war, verfolgte mit argwöhnischen Blicken, wie Sachs die Handschellen aufschloß. Offenbar hatte er Angst, daß sie ihre Meinung ändern könnte. Sobald er frei war, ging er raschen Schrittes zur Tür. Er bemerkte, daß er noch immer den Wirbel in der Hand hatte, machte kehrt und legte ihn - beinahe andächtig - unmittelbar neben Rhyme auf den Tatortbefundbericht vom ersten Mordfall des gestrigen Tages.
    »Seliger als Säue in der Suhle«, sagte Sachs, als sie sich in den knarrenden Rattansessel fläzte. Womit sie Sellitto und Polling meinte, nachdem sie ihnen mitgeteilt hatte, daß Rhyme bereit sei, einen weiteren Tag an dem Fall mitzuarbeiten.
    »Polling vor allem«, sagte sie. »Ich dachte, der kleine Kerl fällt mir um den Hals. Verraten Sie ihm nicht, daß ich ihn so genannt habe. Wie geht's Ihnen? Sie sehen besser aus.« Sie trank einen Schluck Scotch und stellte ihr Glas neben Rhymes auf den Nachttisch.
    »Nicht schlecht.«
    Thom wechselte gerade die Bettwäsche. »Du hast regelrechte Sturzbäche geschwitzt«, sagte er.
    »Aber nur oberhalb des Halses«, wandte Rhyme ein. »Das Schwitzen meine ich.«
    »Stimmt das?« fragte Sachs.
    »Ja. So ist das nun mal. Darunter ist das Thermostat kaputt. Ich brauche kein Axialdeodorant.«
    »Axial?«
    »Achsel«, versetzte Rhyme. »Die Achselhöhle. Mein erster Pfleger sagte nie Achselhöhlen. Er sagte: >Ich werde Ihnen jetzt unter die Axialen greifen und Sie hochheben, Lincoln. < Oh, und: >Wenn Ihnen nach Regurgitieren zumute ist, dann tun Sie das ruhig, Lincoln .< Er bezeichnete sich als >Fürsorger<. Der Ausdruck stand sogar in seinem Lebenslauf. Ich weiß nicht, warum ich ihn eingestellt habe. Wir sind ausgesprochen abergläubisch, Sachs. Wir meinen, wenn wir bestimmten Dingen einen anderen Namen geben, ändern sie sich dadurch. Unbekannter, Täter. Aber dieser Pfleger sollte einen Kranken betreuen, und dazu mußte er mitunter bis über beide Achselhöhlen in der Scheiße wühlen. Stimmt's, Thom? Kein Grund, sich dessen zu schämen. Es ist ein ehrenwerter Beruf. Schweinisch, aber ehrenwert.«
    »Ich stehe auf Schweinereien. Deshalb arbeite ich ja für dich.«
    »Was bist du, Thom, ein Pfleger oder ein Fürsorger?«
    »Ich bin ein Heiliger.«
    »Ha, immer rasch ein Widerwort parat. Und ebenso flink mit der Spritze. Er hat mich von den Toten zurückgeholt. Schon mehr als einmal.«
    Und plötzlich packte Rhyme die helle Angst, daß auch Sachs ihn nackt gesehen haben könnte.

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