Der Knochenjäger
keine Autobahnpolizei.«
Das Telefon summte, und Rhyme meldete sich persönlich. Lon Sellitto war dran.
»Wir haben Sicherungs- und Observierungstrupps bei allen in Frage kommenden Kirchen in Harlem postiert. Dellray ist dafür zuständig - der Mann ist regelrecht bekehrt, Lincoln. Du würdest ihn nicht mehr wiedererkennen. Ach, und ich habe dreißig Streifenpolizisten und einen Haufen Leute vom UN-Sicherheitsdienst losgeschickt, damit sie sich um alle die Kirchen kümmern, die wir möglicherweise übersehen haben. Um halb acht werden alle durchsucht, wenn er bis dahin nicht aufgekreuzt ist. Nur für den Fall, daß er sich unbemerkt reingeschlichen hat. Ich glaube, wir werden ihn fassen, Linc«, sagte Sellitto, der für einen Detective der New Yorker Mordkommission geradezu verdächtig begeistert klang.
»In Ordnung, Lon. Ich schicke Amelia gegen acht Uhr zu dir.«
Sie unterbrachen die Verbindung.
Thom klopfte an die Tür, bevor er das Zimmer betrat.
Als könnte er sie in einer peinlichen Situation ertappen, dachte Rhyme und mußte insgeheim lachen.
»Keine Ausflüchte mehr«, sagte Thom streng. »Ins Bett. Sofort.«
Es war schon nach drei Uhr morgens, und Rhyme hatte die Müdigkeit längst überwunden. Er fühlte sich schwerelos. Als schwebte er über seinem Körper. Er fragte sich, ob er bald Halluzinationen bekäme.
»Ja, Mutter«, erwiderte er. »Officer Sachs bleibt über Nacht, Thom. Könntest du ihr eine Decke holen, bitte?«
»Was hast du gesagt?« Thom wandte sich ihm zu.
»Eine Decke.«
»Nein, danach«, sagte der Adlatus. »Was war das?«
»Ich weiß es nicht. >Bitte?<«
Thom riß erschrocken die Augen auf. »Ist alles in Ordnung? Soll ich Pete Taylor holen? Das Oberhaupt der nächsten Kirchengemeinde? Den Gesundheitsminister?«
»Sehen Sie, wie dieser Mistkerl mich quält?« sagte Rhyme zu Sachs. »Er weiß gar nicht, wie kurz er vor der Kündigung steht.«
»Wann soll der Weckruf erfolgen?«
»Halb sieben sollte reichen«, sagte Rhyme.
Als er wieder weg war, fragte Rhyme: »He, Sachs, mögen Sie Musik?«
»Ich liebe Musik.«
»Was für welche?«
»Oldies, Doo-Wop, Motown ... Wie steht's mit Ihnen? Sie kommen mir eher wie ein Klassikfan vor.«
»Sehen Sie den Einbauschrank da?«
»Den hier?«
»Nein, nein, den daneben. Rechts davon. Öffnen Sie die Tür.«
Sie tat es und pfiff erstaunt. Der Einbauschrank entpuppte sich als kleine Kammer, in der Tausende von CDs standen.
»Das sieht ja aus wie in einem Plattenladen.«
»Das Stereogerät auf dem Regal, sehen Sie es?«
Sie strich mit der Hand über die verstaubte schwarze Harmon-Kardon-Anlage.
»Die hat mehr gekostet als mein erster Wagen«, sagte Rhyme. »Ich benutze sie nicht mehr.«
»Warum nicht?«
Er ging nicht darauf ein. »Legen Sie etwas auf«, sagte er statt dessen. »Ist sie angeschlossen? Ja? Gut. Suchen Sie etwas aus.«
Kurz darauf kam sie aus der Kammer, legte eine CD auf und ging zur Couch, als Levi Stubbs and the Four Tops begannen, über die Liebe zu singen.
Rhyme schätzte, daß es gut ein Jahr her war, seit in diesem Zimmer zum letztenmal Musik erklungen war. Er dachte über Sachs' Frage nach, versuchte für sich eine Antwort darauf zu finden, warum er keine Musik mehr hörte. Schaffte es nicht.
Sachs räumte allerlei Akten und Bücher von der Couch. Legte sich darauf und blätterte in einem Exemplar von Tatorte.
»Kann ich eins haben?« fragte sie.
»Nehmen Sie zehn.«
»Würden Sie ...« Sie brach ab.
»Es für Sie signieren?« Er lachte. Sie stimmte ein. »Wie war's mit einem Daumenabdruck? Bei einer Signatur bestätigen Ihnen die Graphologen allenfalls mit fünfundachtzigprozentiger Wahrscheinlichkeit, daß die Handschrift mit meiner übereinstimmt. Bei einem Daumenabdruck wird Ihnen jeder Fingerabdruckexperte bestätigen, daß er von mir stammt.«
Er betrachtete sie, während sie das erste Kapitel las. Ihre Lider wurden zusehends schwerer. Sie schlug das Buch zu.
»Würden Sie mir einen Gefallen tun?« fragte sie.
»Was?«
»Mir was vorlesen. Aus dem Buch. Als ich mit Nick zusammen war ...» Ihre Stimme verklang.
»Ja?«
»Als wir noch zusammen waren, hat Nick mir vor dem Einschlafen unheimlich oft was vorgelesen. Aus Büchern, irgendwas aus der Zeitung, aus Illustrierten. Das geht mir mit am meisten ab.«
»Ich kann furchtbar schlecht vorlesen«, gestand Rhyme. »Es klingt, als würde ich einen Tatortbefundbericht wiedergeben. Aber mein Gedächtnis ... das ist ziemlich gut. Wie war's, wenn
Weitere Kostenlose Bücher