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Der Knochenjäger

Titel: Der Knochenjäger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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ich Ihnen einfach von ein paar Tatorten berichte?«
    »Würden Sie das tun?« Sie kehrte ihm den Rücken zu, zog die marineblaue Bluse aus und schnallte die dünne kugelsichere Weste ab und warf sie beiseite. Darunter trug sie ein Netzhemd und einen Sport-BH. Sie schlüpfte wieder in die Bluse und legte sich auf die Couch, zog die Decke über sich, rollte sich ein und schloß die Augen.
    Mittels elektronischer Steuerung dämpfte Rhyme das Licht.
    »Ich fand Orte, an denen jemand umgekommen war, seit jeher faszinierend«, fing er an. »Sie sind eine Art Pilgerstätte. Der Geburtsort eines Menschen interessiert uns doch weit weniger als die Stelle, wo es ihn erwischt hat. Tagtäglich besuchen tausend Menschen das Texas Book Depository in Dallas, aus dem die tödlichen Schüsse auf John Kennedy abgegeben wurden. Was meinen Sie, wie viele Menschen zu einer bestimmten Entbindungsstation in Boston pilgern?«
    Rhyme ließ den Kopf auf das köstlich weiche Kissen sinken. »Langweile ich Sie?«
    »Nein«, sagte sie. »Hören Sie bitte nicht auf.«
    »Wissen Sie, was mich seit jeher fasziniert hat, Sachs?«
    »Erzählen Sie.«
    »Es beschäftigt mich schon seit Jahren - Golgatha. Vor zweitausend Jahren. Tja, den Tatort hätte ich liebend gern untersucht. Ich weiß, was Sie sagen werden: Aber wir wissen doch, wer die Täter waren. Nun ja, stimmt das? Wir wissen lediglich, was uns die Augenzeugen berichten. Können Sie sich noch erinnern, was ich gesagt habe? Traue nie einem Zeugen. Möglicherweise geben die Schilderungen der Evangelisten gar nicht das wirkliche Geschehen wieder. Wo sind die Beweise? Die Spuren. Die Nägel, das Blut, der Schweiß, die Lanze, das Kreuz, der Essig? Die Sandalenspuren und die Fingerabdrücke?«
    Rhyme wandte den Kopf ein Stück nach links, berichtete weiter von Tatorten und Spuren, bis er sah, daß Sachs' Brust sich gleichmäßig hob und senkte und die feuerrote Haarsträhne, die ihr ins Gesicht gefallen war, von ihren ruhigen Atemzügen leicht hin- und hergeweht wurde. Mit dem Ringfinger der linken Hand betätigte er die elektronische Steuerung und schaltete das Licht aus. Kurz darauf war auch er eingeschlafen.
    Fahles Dämmerlicht fiel von draußen herein.
    Carole Ganz wachte auf und blickte zum Fenster mit dem eingelassenen Maschendraht, das sich unmittelbar über ihrem Kopf befand. Pammy. Ach, meine Kleine... Dann dachte sie an Ron. Und ihre ganze Habe, die jetzt in diesem gräßlichen Keller war. Das Geld, der gelbe Rucksack ...
    Vor allem aber dachte sie an Pammy. Irgend etwas hatte sie aus einem leichten, unruhigen Schlaf gerissen. Was mochte das gewesen sein?
    Die Schmerzen? Ihr Handgelenk tat scheußlich weh. Sie wälzte sich etwas zur Seite. Sie -
    Dröhnende Orgeltöne und aufbrandender Chorgesang schallten plötzlich durch den Raum.
    Deswegen war sie aufgewacht. Wegen der Musik. Dieser schmetternden Musik. Die Kirche war gar nicht verwaist. Da oben waren Menschen! Sie lachte leise vor sich hin. Jemand würde sie -
    Und dann fiel ihr die Bombe ein.
    Carole schielte um die Ecke des Aktenschrankes. Sie war noch da, stand genau an der Tischkante. Sie wirkte plump, so, wie man sich ein Mordinstrument vorstellte, eine richtige Bombe - nicht wie die stromlinienförmigen Glitzerdinger, die man im Kino sah. Ein schlampig gezogener Draht, notdürftig mit Klebeband befestigt, schmutziges Benzin ... Vielleicht war es eine Attrappe, dachte sie. Bei Tageslicht sah sie nicht mehr ganz so gefährlich aus.
    Wieder die dröhnende Musik. Direkt über ihrem Kopf. Dazu schlurfende Schritte. Eine Tür wurde geschlossen. Knarren und Knacken, als Menschen auf die alten, trockenen Dielenbretter traten. Staubschwaden rieselten von den Deckenbalken.
    Die jauchzenden Stimmen brachen mitten im Satz ab. Im nächsten Moment setzten sie wieder ein.
    Carole trampelte mit den Füßen, doch der Boden war aus Beton, die Wand aus Ziegeln. Sie versuchte zu schreien, aber das Klebeband erstickte jeden Laut. Dann ging die Chorprobe weiter, und wieder schallte inbrünstiger Lobgesang durch den Keller.
    Nach zehn Minuten sank Carole erschöpft zu Boden. Wieder warf sie einen bangen Blick auf die Bombe. Jetzt war das Licht besser, so daß sie den Zeitschalter deutlich erkennen konnte.
    Carole kniff die Augen zusammen. Der Zeitschalter!
    Von wegen Attrappe. Der Pfeil deutete auf 6.15 Uhr. Die Anzeige auf dem Zifferblatt stand bei 5.30 Uhr.
    Carole kroch hinter dem Aktenschrank hervor und schlug mit den Knien an den Metallkorpus.

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