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Der Knochenjäger

Titel: Der Knochenjäger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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zu fremden Bedingungen.
    Polling ging zum Bett.
    Doch er konnte nichts dagegen tun. Er war diesem Mann auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
    »Lincoln«, wiederholte Polling ernst.
    Sie gingen auf Blickkontakt, und Rhyme hatte das Gefühl, als schlösse sich ein Stromkreis zwischen ihnen. Trockene Funken. Der Captain schaute kurz zum Fenster. »Sie haben sich bestimmt gewundert, nicht wahr?«
    »Gewundert?«
    »Weshalb ich wollte, daß Sie an dem Fall mitarbeiten.«
    »Ich dachte, es wäre wegen meiner Persönlichkeit.«
    Der Captain ließ sich kein Lächeln entlocken.
    »Weshalb wollten Sie mich dabeihaben, Jim?«
    Der Captain hatte die Finger ineinander verwoben. Schlanke, aber kräftige Finger. Anglerhände. Jawohl, er übte eine Sportart aus, die durchaus etwas Anmutiges, Gelassenes an sich hatte, deren eigentlicher Zweck aber darin bestand, ein armes Tier aus seinem angestammten Element zu reißen und ihm mit einem scharfen Messer den Bauch aufzuschlitzen.
    »Vor vier Jahren. Der Fall Shepherd. Wir haben zusammen daran gearbeitet.«
    Rhyme nickte.
    »Bauarbeiter hatten die Leiche des Polizisten im U-Bahnhof gefunden.«
    Ein Ächzen, so entsann sich Rhyme, das an die Geräuschkulisse auf dem sinkenden Ozeanriesen in dem Film Die letzte Nacht der Titanic erinnerte. Dann ein lauter Knall, wie ein Schuß, als der Balken auf seinen ungeschützten Nacken herabstürzte und die Erde seinen Leib umschloß.
    »Und Sie haben den Tatort untersucht. Sie persönlich, wie immer.«
    »Ja, genau.«
    »Wissen Sie, wie wir Shepherd überführt haben? Wir hatten einen Zeugen.«
    Einen Zeugen? Davon hatte Rhyme nichts gehört. Nach dem Unfall hatte er sich nicht mehr um den Fall gekümmert, hatte lediglich erfahren, daß Shepherd verurteilt und drei Monate später in der Haftanstalt auf Riker's Island erstochen worden war. Der Täter wurde nie gefaßt.
    »Einen Augenzeugen«, fuhr Polling fort. »Durch ihn konnten wir nachweisen, daß Shepherd eins der Opfer zu Hause aufgesucht hatte - mit der Mordwaffe.« Der Captain trat näher ans Bett und verschränkte die Arme. »Wir hatten den Zeugen am Tag bevor wir die letzte Leiche gefunden haben - die in dem U-Bahnschacht. Bevor ich den Antrag gestellt habe, daß Sie die Tatortarbeit übernehmen.«
    »Worauf wollen Sie hinaus, Jim?«
    Der Captain hatte den Blick auf den Boden geheftet. »Wir hätten Sie gar nicht gebraucht. Wir waren nicht auf Ihren Tatortbefundbericht angewiesen.«
    Rhyme sagte nichts.
    Polling nickte. »Verstehen Sie, was ich sagen will? Ich wollte diesen Drecksack von Shepherd unbedingt drankriegen... Und Sie wissen ja, wie die Strafverteidiger auf einen Tatortbefundbericht von Lincoln Rhyme reagieren. Die kriegen das volle Muffensausen.«
    »Aber Shepherd wäre auch ohne meinen Bericht verurteilt worden.«
    »Ganz genau, Lincoln. Aber es kommt noch schlimmer. Wissen Sie, die Bauabteilung der städtischen Verkehrsbetriebe hatte mir mitgeteilt, daß die Stelle nicht abgesichert war.«
    »Die U-Bahnbaustelle? Und Sie haben mich dort arbeiten lassen, bevor sie entsprechend abgestützt war?«
    »Shepherd war ein Polizistenmörder.« Polling verzog angewidert das Gesicht. »Ich wollte ihn unbedingt drankiegen. Ich war' zu allem bereit gewesen. Aber ...« Er ließ den Kopf in die Hände sinken.
    Rhyme sagte nichts. Er hörte wieder das Ächzen des Balkens, das laute Krachen, als das Holz barst. Dann die herabprasselnde Erde, die ihn unter sich begrub. Er erinnerte sich an das merkwürdige Gefühl - die Wärme und den Frieden -, das ihn überkommen hatte, während ihm vor Schreck das Herz stockte.
    »Jim -«
    »Deshalb wollte ich, daß Sie an diesem Fall mitarbeiten, Lincoln. Verstehen Sie?« Der Captain, der sonst so hart und unnahbar wirkte, sah todunglücklich aus. »Ich hab' ständig Geschichten gehört, daß Ihr Leben verpfuscht wäre. Daß Sie hier vor sich hin vegetieren. Ständig davon reden, daß Sie sich umbringen wollen. Ich hab' mir so verfluchte Vorwürfe gemacht. Ich wollte, daß Sie wieder ein bißchen Spaß am Leben haben.«
    »Und damit haben Sie die letzten dreieinhalb Jahre gelebt?« fragte Rhyme.
    »Sie kennen mich doch, Lincoln. Jeder kennt mich. Wenn ich jemanden festnehme und er kommt mir dumm, geht's ihm schlecht. Wenn ich einen Täter auf dem Kieker habe, hör' ich nicht auf, bis der Sack hinter Schloß und Riegel sitzt. Ich kann nicht anders. Ich weiß, daß ich so manches Mal jemanden mißhandelt habe. Aber das waren Kriminelle - oder zumindest

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