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Der Knochenjäger

Titel: Der Knochenjäger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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Ärzte, die Sterbenskranke behandelten, hatten schon einmal eine tödliche Dosis Medikamente verschrieben oder verabreicht. Die meisten Staatsanwälte drückten beide Augen zu, solange ein Arzt sich nicht öffentlich damit brüstete - wie Dr. Kevorkian.
    Aber bei einem Querschnittsgelähmten? Einem Behinderten? Einem Invaliden? Einem Krüppel? Oh, das war etwas anderes. Lincoln Rhyme war vierzig Jahre alt. Er war nicht mehr auf künstliche Beatmung angewiesen. Sofern nicht irgendeine heimtückische, genetisch bedingte Krankheit auftrat, gab es aus medizinischer Sicht keinerlei Grund, weshalb Rhyme nicht achtzig Jahre alt werden könnte.
    »Lassen Sie es mich einmal ganz unverblümt ausdrücken, Lincoln«, fügte Berger hinzu. »Ich muß mich auch davon überzeugen, daß es sich dabei nicht um eine abgekartete Sache handelt.«
    »Abgekartete Sache?«
    »Von Seiten der Staatsanwaltschaft. Man hat mich schon einmal in eine Falle gelockt.«
    Rhyme lachte. »Der New Yorker Generalstaatsanwalt ist ein vielbeschäftigter Mann. Der denkt nicht daran, einen Krüppel zu verwanzen, damit er einen Sterbehelfer hopsnehmen kann.«
    Geistesabwesend warf er einen Blick auf den Tatortbefundbericht.
    ... dicht beisammen auf einem kleinen Haufen aus weißem Sand etwa drei Meter südwestlich des Opfers gefunden: ein Faserknäuel, Durchmesser ungefähr sechs Zentimeter, Farbe gebrochen weiß. Die Fasern wurden einer Röntgenfeinstrukturanalyse unterzogen und bestehen demnach aus A2 B5 (Si, A8 022 (OH)2). Keinerlei Hinweise auf Herkunft. Fasern konnten nicht näher bestimmt werden. Probe wurde an FBI/PERT (Spurenauswertung) weitergeleitet.
    »Ich muß einfach vorsichtig sein«, fuhr Berger fort. »Ich habe mich beruflich ganz und gar auf diese Sache festgelegt. Die Orthopädie habe ich völlig aufgegeben. Jedenfalls ist es mehr als nur ein Job. Ich habe beschlossen, mein Leben in den Dienst derer zu stellen, die ihres beenden möchten und dabei Hilfe benötigen.«
    Unmittelbar neben diesen Fasern, ungefähr siebeneinhalb Zentimeter davon entfernt, wurden zwei Papierschnipsel gefunden. Bei dem einen handelt es sich um herkömmliches Zeitungspapier mit dem Aufdruck »fünfzehn Uhr«, Schriftart Times Roman, Druckerschwärze vom selben Typus wie bei allen handelsüblichen Zeitungen. Beim anderen Schnipsel handelt es sich offenbar um eine Buchseite mit der Seitennummer 238. Die Schriftart ist Garamond, das Papier wurde kalandriert. DFO und anschließendes Ninhydrinverfahren ergaben keinerlei latente Fingerabdrücke auf beiden Papierschnipseln.
    ... Genaue Identifizierung war nicht möglich.
    Mehrere Fragen machten Rhyme zu schaffen. Zum einen die Fasern. Warum hatte Peretti nicht kapiert, worum es sich handelte? Es war so offensichtlich. Und warum befanden sich diese Spuren - die Papierschnipsel und das Faserknäuel - unmittelbar nebeneinander? Irgend etwas stimmte hier nicht.
    »Lincoln?«
    »Verzeihung.«
    »Ich wollte damit sagen ... Sie haben keine Brandverletzungen erlitten, die Ihnen unerträgliche Schmerzen bereiten. Sie haben Geld, Sie haben Talent. Sie beraten die Polizei... helfen damit vielen Menschen. Sie könnten ein langes, erfülltes Leben vor sich haben.«
    »Lang ja. Genau das ist doch das Problem. Ein langes Leben.« Er hatte das gute Benehmen satt. »Aber ich will kein langes Leben vor mir haben«, blaffte er. »So einfach ist das.«
    »Wenn auch nur die geringste Möglichkeit besteht«, sagte Berger bedächtig, »daß Sie Ihren Entschluß bereuen könnten, nun ja, verstehen Sie, dann bin ich derjenige, der damit leben muß. Nicht Sie.«
    »Wer ist sich bei so was schon völlig sicher?«
    Unwillkürlich wanderte sein Blick wieder zum Bericht.
    Auf den Papierschnipseln befand sich eine Eisenschraube. Eine Sechskantschraube mit der Prägung »CE«. Fünf Zentimeter lang, Gewinde im Uhrzeigersinn, etwa 2,3 cm Durchmesser,
    »Ich bin in den nächsten Tagen ziemlich beschäftigt«, sagte Berger und schaute auf seine Armbanduhr. Es war eine Rolex; nun ja, der Tod war seit jeher ein einträgliches Geschäft. »Gönnen wir uns jetzt eine Stunde oder so. Reden wir eine Weile miteinander. Danach denken wir einen Tag lang in aller Ruhe darüber nach, und dann komme ich wieder.«
    Irgend etwas ließ Rhyme keine Ruhe. Irgend etwas juckte ihn wie wahnsinnig - der Fluch aller Querschnittsgelähmten -, auch wenn es sich in diesem Fall um einen intellektuellen Kitzel handelte. Und damit hatte sich Rhyme sein ganzes Leben lang

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