Der Knochenjäger
Wunsch nachkommen wolle. Berger weigerte sich jedoch, rasch zur Tat zu schreiten, worauf sie im Laufe der letzten sieben, acht Monate mehrere Gespräche geführt hatten. Heute lernten sie sich erstmals persönlich kennen.
»Es gibt für Sie keine Möglichkeit, aus eigener Kraft zu verscheiden?«
Verscheiden...
»Von Gene Harrods Methode einmal abgesehen, nein. Und selbst die könnte ein bißchen kitzlig werden.«
Harrod, ein querschnittsgelähmter junger Mann in Boston, hatte den Entschluß gefaßt, sich umzubringen. Da er niemanden hatte finden können, der ihm dabei half, hatte er auf die einzige ihm mögliche Art Selbstmord begangen. Unter Aufbietung des letzten Restes von Beweglichkeit, der ihm verblieben war, hatte er in seiner Wohnung ein Feuer entzündet und war, als es hell aufloderte, mit seinem Rollstuhl in die Flammen gefahren. Er war an Verbrennungen dritten Grades gestorben.
Der Fall wurde von den Befürwortern der Sterbehilfe häufig als Beispiel dafür vorgebracht, zu welchen Tragödien die Anti-Euthanasie-Gesetze führen können.
Berger wußte über den Fall Bescheid und schüttelte mitleidig den Kopf. »Nein, auf diese Weise sollte niemand sterben müssen.« Er musterte Rhymes Körper, die Kabel, die Steuerungskonsolen. »Wozu sind Sie mit Hilfe dieser Apparaturen fähig?«
Rhyme erklärte die elektronischen Einrichtungen - den Regler, den er mit dem Ringfinger bediente, die Mundsteuerung mittels Saugen und Blasen, die Joysticks, die er mit dem Kinn betätigte, und das Computer-Diktiergerät, durch das gesprochene Worte als Text auf dem Bildschirm auftauchten.
»Aber all das muß von jemand anders entsprechend vorbereitet und für Sie eingerichtet werden?« fragte Berger. »Jemand müßte zum Beispiel in ein Geschäft gehen, eine Schußwaffe kaufen, sie ausrichten und den Abzug mittels eines Kabels mit Ihrer Steuerung verbinden?«
»Ja.«
Wodurch sich diese Person der Beihilfe zum Mord beziehungsweise Totschlag schuldig machen würde.
»Was ist mit Ihrer Ausrüstung?« fragte Rhyme. »Ist die zuverlässig?«
»Ausrüstung?«
»Das, was Sie benutzen. Für die, ähm, die Tat.«
»Sie ist sehr zuverlässig. Bislang hat sich noch nie ein Patient beschwert.«
Rhyme zwinkerte, und Berger lachte, Rhyme stimmte ebenfalls ein. Wenn man nicht über den Tod lachen kann, worüber denn dann?
»Schauen Sie es sich an.«
»Sie haben sie dabei?« Rhyme schöpfte neue Hoffnung. Zum erstenmal seit Jahren wurde ihm wieder warm ums Herz.
Der Arzt öffnete seine Aktentasche und holte - ziemlich feierlich, dachte Rhyme - eine Flasche Cognac heraus. Ein Fläschchen mit Tabletten. Eine Plastiktüte und einen Einweckgummi.
»Was ist das für ein Medikament?«
»Seconal. Niemand verschreibt das mehr. Früher war Selbstmord viel einfacher. Diese Dingerchen hier erfüllen ihren Zweck, ohne jede Frage. Mit den modernen Beruhigungsmitteln hingegen ist es so gut wie unmöglich, sich umzubringen. Halcion, Librium, Dalmane, Xanax ... Man schläft möglicherweise eine ganze Weile, aber letzten Endes wacht man wieder auf.«
»Und die Tüte?«
»Ah, die Tüte.« Berger nahm sie in die Hand. »Das ist das Wahrzeichen der Lethe Society. Inoffiziell natürlich - wir leisten uns kein Emblem. Für den Fall, daß die Pillen und der Cognac nicht reichen sollten, benutzen wir die Tüte. Man zieht sie über den Kopf und verschließt sie am Hals mit dem Gummiring. Wir packen ein bißchen Eis hinein, weil es nach ein paar Minuten ziemlich heiß wird.«
Rhyme konnte sich nicht von den drei Utensilien losreißen. Die Tüte war aus dickem Kunststoff, wie eine Malerschürze. Der Cognac, so stellte er fest, war billig, und die Tabletten waren Generika.
»Ein hübsches Haus«, sagte Berger und blickte sich um. »Central Park West... Leben Sie von der Invalidenrente?«
»Zum Teil. Außerdem habe ich als Berater für die Polizei und das FBI gearbeitet. Nach dem Unfall ... zahlte die Baufirma, die für die Ausschachtungsarbeiten zuständig war, eine Abfindung von drei Millionen Dollar. Zwar beteuerte man, daß man nicht haftbar sei, aber offenbar gibt es ein ungeschriebenes Gesetz, wonach ein Querschnittsgelähmter jeden Rechtsstreit mit einer Baufirma gewinnt, egal, wer der Schuldige ist. Zumindest wenn ein sabbernder Kläger vor Gericht auftritt.«
»Und Sie haben dieses Buch geschrieben, stimmt's?«
»Dafür bekomme ich ebenfalls etwas Geld. Nicht viel. Es hat sich nicht schlecht verkauft. Aber ein Bestseller war es
Weitere Kostenlose Bücher