Der Knochenjäger
Gefühl mehr hatte.
Vom jüngsten Zipperlein berichtete er Berger jedoch: »Dysregulation des autonomen Nervensystems.«
Die Beschwerden waren in letzter Zeit immer häufiger aufgetreten. Herzklopfen, viel zu hoher Blutdruck, rasende Kopfschmerzen. Eine simple Verstopfung konnte so etwas auslösen. Und man könne nichts dagegen tun, erklärte er, außer jegliche Aufregung und körperliche Anspannung zu vermeiden.
Rhymes Rückenmarkspezialist, Dr. Peter Taylor, hatte sich Sorgen ob der Häufigkeit dieser Anfälle gemacht. Der letzte - vor einem Monat - war so heftig gewesen, daß Taylor Thom erklärt hatte, welche Notfallmaßnahmen er ergreifen müsse, bevor der ärztliche Beistand eintraf. Außerdem hatte er darauf bestanden, daß der Adlatus die Nummer des Arztes im Telefon speicherte, damit er ihn jederzeit per Kurzwahltaste erreichen konnte. Taylor hatte darauf hingewiesen, daß derartige Beschwerden schlimmstenfalls zu einem Herzinfarkt oder Schlaganfall führen könnten.
Berger hörte sich das alles mit einem gewissen Mitgefühl an, dann sagte er: »Bevor ich zu meinem derzeitigen Fachgebiet kam, war ich Spezialist für geriatrische Orthopädie. Hauptsächlich künstliche Hüften und andere Gelenke. Von Neurologie verstehe ich nicht viel. Besteht eine Chance auf Genesung?"
»Null, der Zustand ist irreparabel«, sagte Rhyme, vielleicht eine Idee zu schnell. »Sie verstehen doch, worum es mir geht«, fügte er hinzu, »nicht wahr, Doktor?«
»Ich glaube ja. Aber ich möchte es gern von Ihnen hören.«
Rhyme schüttelte seinen widerspenstigen Haarschopf zurück und sagte: »Jeder Mensch hat das Recht, seinem Leben ein Ende zu setzen,«
«Ich glaube, da würde ich widersprechen. In den meisten Gesellschaften mag man zwar die Möglichkeit dazu haben, nicht aber ein Recht darauf. Das ist ein Unterschied.«
Rhyme lachte bitter auf. »Ich bin kein großer Philosoph. Aber ich habe nicht einmal die Möglichkeit. Deswegen brauche ich Sie.«
Lincoln Rhyme hatte vier Ärzte darum gebeten, ihn zu töten. Alle hatten sich geweigert. Na schön, hatte er gesagt, dann mache ich's eben selbst, und hatte einfach nichts mehr gegessen. Doch dieses langsame Verhungern war die reinste Quälerei gewesen. Er hatte unter heftiger Übelkeit gelitten und war von unerträglichen Kopfschmerzen geplagt worden. Er hatte nicht mehr schlafen können. Folglich hatte er es aufgegeben und Thom im Laufe eines ungeheuer peinlichen Gesprächs gebeten, ihn zu töten. Der junge Mann war in Tränen ausgebrochen -es war das einzige Mal, daß er derart viel Gefühl gezeigt hatte - und hatte gesagt, er wünschte, er könne es. Er sei bereit, danebenzusitzen und zuzusehen, wie Rhyme sterbe, und er werde ihn auch nicht wiederbeleben. Aber ihn töten, das bringe er nicht fertig.
Und dann geschah ein Wunder. Wenn man es so nennen wollte.
Nachdem Tatorte herausgekommen war, waren Reporter erschienen und hatten ihn interviewt. Ein Artikel - in der New York Times brachte folgende eindeutige Aussage von Autor Rhyme:
» Nein, ich gedenke keine weiteren Bücher zu schreiben. Mein nächstes großes Projekt ist vielmehr mein Selbstmord. Es ist eine ziemliche Herausforderung. Während der letzten sechs Monate habe ich jemanden gesucht, der mir dabei hilft.«
Diese aufsehenerregende Formulierung hatte wiederum die Aufmerksamkeit des Beratungsdienstes der New Yorker Polizei sowie mehrerer Menschen aus Rhymes Vergangenheit erregt, allen voran Blaine (die ihm erklärt hatte, er spinne, wenn er so etwas auch nur in Erwägung ziehe; er müsse endlich aufhören, nur an sich zu denken - genau wie damals, als sie noch zusammen waren -, und außerdem habe sie gedacht, wenn sie schon mal da sei, sollte sie vielleicht erwähnen, daß sie wieder heiraten wolle).
Das Zitat war auch William Berger aufgefallen, der eines Abends unverhofft aus Seattle angerufen hatte. Nach einem mehrere Minuten langen angenehmen Gespräch hatte Berger erklärt, daß er den Artikel über Rhyme gelesen habe. Dann, nach einem kurzen Schweigen, hatte er gefragt: »Schon mal von der Lethe Society gehört?«
Rhyme hatte davon gehört. Es war eine Sterbehilfe-Organisation, die er seit Monaten aufzuspüren versucht hatte. Sie war weitaus radikaler als andere derartige Gruppen. »Unsere freiwilligen Mitarbeiter werden im ganzen Land gesucht, weil man sie wegen Beihilfe bei Dutzenden von Selbstmorden vernehmen will«, erklärte Berger. »Wir müssen uns bedeckt halten.«
Er sagte, daß er Rhymes
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