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Der Knochenjäger

Titel: Der Knochenjäger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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vorging. Tatortarbeit gilt allgemein als ein Bombenjob, und es gibt stets eine lange Warteliste für die dafür zuständige Einheit. Rhyme hatte es früher ein hämisches Vergnügen bereitet, die Reihen der Bewerber zu lichten, indem er ihnen anbot, einen Blick ins Familienalbum zu werfen - eine Sammlung besonders grauenvoller Tatortfotos. Manche wurden dabei blaß, andere kicherten. Manche hatten die Augenbrauen hochgezogen, als sie das Buch zurückgaben, so als wollten sie sagen: Na und? Und das waren diejenigen, die Lincoln Rhyme einstellte. Peretti war einer davon gewesen.
    Sellitto hatte eine Frage gestellt. Rhyme bemerkte, daß ihn der Detective anschaute. »Du arbeitest doch mit uns an dieser Sache, nicht wahr, Lincoln?« wiederholte er.
    »Mit euch arbeiten?« Er lachte auf. »Ich kann nicht, Lon. Nein. Ich wollte euch bloß ein paar Ideen liefern. Die habt ihr. Arbeitet damit. Thom, hol Berger her.« Er bedauerte jetzt seinen Entschluß, das Tete-a-tete mit dem Sterbearzt zu verschieben. Vielleicht war es noch nicht zu spät. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, daß er bis zu seinem Hinscheiden noch zwei Tage warten mußte. Und Montag ... er wollte nicht am Montag sterben. Es kam ihm so gewöhnlich vor.
    »Sag bitte.«
    »Thom!«
    »In Ordnung«, sagte sein Adlatus und hob einlenkend die Hände.
    Rhyme blickte zu der Stelle auf seinem Nachtkästchen, wo die Cognacflasche, die Tabletten und die Plastiktüte gewesen waren - so nahe und trotzdem unerreichbar, wie alles in seinem Leben.
    Sellitto ging zum Telefon, wählte und legte den Kopf schief, als sich jemand meldete. Er nannte seinen Namen. Der Zeiger der Wanduhr rückte auf halb eins.
    »Ja, Sir.« Der Detective senkte die Stimme und flüsterte respektvoll. Der Bürgermeister, nahm Rhyme an. »Wegen der Entführung am Flughafen. Ich habe mit Lincoln Rhyme gesprochen ... Ja, Sir, er hat sich ein paar Gedanken dazu gemacht.« Der Detective spazierte zum Fenster, schaute mit ausdrucksloser Miene auf den Falken und versuchte dem Mann, der die Geschicke der rätselhaftesten Stadt der Welt leitete, das Unerklärliche zu erklären. Er legte auf und wandte sich an Rhyme.
    »Er und der Chef wollen, daß du mitmachst, Linc. Sie haben ausdrücklich darum gebeten. Wilson persönlich.«
    Rhyme lachte. »Lon, schau dich in diesem Zimmer um. Schau mich an! Hast du den Eindruck, daß ich einen Fall übernehmen könnte?«
    »Einen gewöhnlichen Fall nicht, nein. Aber das hier ist kein gewöhnlicher Fall, stimmt's?«
    »Tut mir leid. Ich habe einfach keine Zeit. Dieser Arzt. Die Behandlung. Thom, hast du ihn angerufen?«
    »Noch nicht. Geschieht aber demnächst.«
    »Sofort! Mach es sofort!«
    Thom blickte zu Sellitto. Lief zur Tür, ging hinaus. Rhyme wußte, daß er nicht anrufen würde. Eine beschissene Welt.
    Banks betastete eine Rasiernarbe, dann platzte er heraus: »Liefern Sie uns doch einfach ein paar Ideen. Bitte. Sie haben gesagt, dieser Unbekannte -«
    Sellitto brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Er blickte Rhyme unverwandt an.
    O du Mistkerl, dachte Rhyme. Das altbekannte Schweigen. Wie sehr wir es hassen, wie schnell wir es überbrücken möchten. Wie viele Zeugen und Verdächtige waren unter diesem drückenden, bleiernen Schweigen schon zusammengebrochen. Tja, er und Sellitto waren wirklich ein gutes Gespann gewesen. Rhyme kannte sich mit Spuren aus und Lon Sellitto mit Menschen.
    Die zwei Musketiere. Und wenn es einen dritten gab, dann war es die reine, lautere Wissenschaft.
    Der Kriminalpolizist warf einen Blick auf den Tatortbefundbericht. »Lincoln. Was passiert deiner Meinung nach heute nachmittag um drei?«
    »Ich habe keine Ahnung«, erklärte Rhyme.
    »Wirklich nicht?«
    Billig, Lon. Dafür krieg' ich dich dran.
    »Er wird sie umbringen«, sagte Rhyme schließlich. »Die Frau in dem Taxi. Und zwar auf eine ziemlich üble Weise, das garantiere ich dir. Eine Todesart, die sich mit einem Begräbnis bei lebendigem Leib messen kann.«
    »Jesses«, flüsterte Thom, der in der Tür stand.
    Warum konnten sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen? Würde es etwas nützen, wenn er ihnen von dem Reißen in Nacken und Schultern erzählte? Oder von den Phantomschmerzen - viel schwächer und viel unheimlicher -, die seinen ihm fremd gewordenen Körper heimsuchten? Von den Erschöpfungszuständen, die ihm der tagtägliche Kampf um, nun ja, alles bereitete? Von der allerschlimmsten, unerträglichsten Qual - daß er ständig auf jemand anders angewiesen

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