Der Knochenjäger
lange nicht mehr. Sicher, nach dem Unfall hatte manchmal jemand unangekündigt vorbeigeschaut (die Chancen, Rhyme zu Hause anzutreffen, standen natürlich ziemlich gut), aber er hatte das unterbunden. Und er hatte auch niemanden mehr angerufen, sondern sich immer mehr zurückgezogen, die Einsamkeit gesucht. Er hatte stundenlang an seinem Buch gearbeitet, und wenn er keine Lust gehabt hatte weiterzuschreiben, hatte er gelesen. Und wenn ihm das zu langweilig geworden war, hatte er sich Leihvideos und Fernsehfilme angesehen oder Musik gehört. Dann hatte er keine Lust mehr auf Fernsehgerät und Stereoanlage gehabt, sondern einfach stundenlang die Kunstdrucke angestarrt, die sein Adlatus pflichtschuldigst an der Wand gegenüber dem Bett aufgehängt hatte. Schließlich waren auch sie entfernt worden.
Einsamkeit.
Das war alles, wonach er sich sehnte, und ach, wie sehr sie ihm jetzt fehlte.
Jim Polling, stämmig und gedrungen, ging auf und ab und wirkte angespannt. Lon Sellitto leitete die Ermittlungen in diesem Fall, aber bei einer derartigen Sache brauchte man einen Captain an Bord, und Polling hatte sich freiwillig dazu bereit erklärt. Der Fall war eine Zeitbombe und konnte in Null Komma nichts manch eine Karriere ruinieren, daher waren der Chef und die Abteilungsleiter froh, daß er das Sperrfeuer auf sich zog. Sie übten sich unterdessen in der hohen Kunst des Distanzierens, und wenn Pressekonferenzen anstanden und die Fernsehkameras liefen, würden sie ihre Stellungnahmen mit Ausdrücken wie delegiert, eingesetzt und auf Ratschlag von spicken und rasche Blicke zu Polling werfen, sobald es unbequeme Fragen abzublocken galt. Rhyme konnte sich nicht vorstellen, warum irgendein Polizist auf dieser Welt sich freiwillig dazu bereit erklärte, die Verantwortung für einen derartigen Fall zu übernehmen.
Aber Polling war ein komischer Kerl. Der kleine Mann hatte sich im Revier Midtown North zu einem der erfolgreichsten - und berüchtigtsten - Ermittler bei Mordfällen gemausert. Bekannt für seinen Jähzorn, war er in ernsthafte Schwierigkeiten geraten, als er einen unbewaffneten Verdächtigen getötet hatte. Aber wie durch ein Wunder war er beruflich dennoch weitergekommen, da aufgrund seiner Ermittlungen ein Urteil im Fall Shepherd gefällt werden konnte - im Fall des Polizistenmörders also, in dessen Verlauf sich Rhyme seine Verletzung zugezogen hatte. Als er in die Jahre kam, hatte Polling, der nach dieser aufsehenerregenden Festnahme zum Captain befördert worden war, eine erstaunliche Wandlung durchgemacht - er hatte seine Bluejeans und Sears-Anzüge aufgegeben, sich bei Brooks Brothers eingekleidet (heute trug er marineblaue Freizeitkleidung von Calvin Klein) und beharrlich seinem beruflichen Weiterkommen gewidmet, bis er schließlich in einem schicken Eckzimmerbüro in einer der oberen Etagen des New Yorker Polizeipräsidiums gelandet war.
An einem Tisch in der Nähe lehnte ein weiterer Polizist. Bo Haumann, schlank, feingliedrig, die Haare millimeterkurz gestutzt, war Captain und Leiter des Spezialeinsatzkommandos der New Yorker Polizei.
Banks beendete soeben seine Zusammenfassung, als Sellitto die Verbindung unterbrach und das Telefon zuklappte. »Die Hardy Boys.«
»Irgendwelche Neuigkeiten vom Taxi?« fragte Polling.
»Nichts. Sie horchen sich immer noch um.«
»Irgendein Hinweis, daß sie mit jemandem gevögelt hat, von dem sie lieber die Finger hätte lassen sollen?« fragte Polling. »Ein durchgeknallter Freund vielleicht?«
»Nee, keinerlei Freunde. Ging bloß ab und zu mit ein paar Jungs aus. Kein Sittenstrolch darunter, wie's aussieht.«
»Und noch immer keine Lösegeldforderung?« fragte Rhyme.
»Nein.«
Die Türglocke schellte. Thom ging nach unten.
Rhyme schaute zur Tür, als er Stimmen im Treppenhaus hörte.
Einen Augenblick später geleitete der Adlatus eine Polizistin in Uniform die Treppe herauf. Von weitem wirkte sie sehr jung, doch als sie näher kam, sah er, daß sie vermutlich schon um die Dreißig war. Sie war groß und besaß die mißmutige und amazonenhafte Schönheit jener Frauen, denen man in Modemagazinen begegnet.
Wir nehmen andere so wahr, wie wir uns selbst wahrnehmen, und seit seinem Unfall hatte Lincoln Rhyme andere nur selten über ihren Körper wahrgenommen. Er konstatierte ihre Größe, die straffen Hüften, das feuerrote Haar. Ein anderer Mann hätte vermutlich ihre Figur gemustert und gesagt: Die ist ja 'ne Wucht. Aber Rhyme kam gar nicht auf den Gedanken. Ihren
Weitere Kostenlose Bücher