Der Knochenjäger
Blick indes bemerkte er sehr wohl.
Die Überraschung zählte nicht - schließlich hatte sie niemand vorgewarnt, daß er ein Krüppel war -, aber da war noch etwas anderes. Ein Ausdruck, den er noch nie gesehen hatte. Fast als wäre sie über seinen Zustand erleichtert. Das genaue Gegenteil zu der Reaktion, die die meisten anderen zeigten. Als sie das Zimmer betrat, entspannte sie sich.
»Officer Sachs?« fragte Rhyme.
»Ja, Sir«, sagte sie und zog gerade noch die Hand zurück, die sie ihm entgegenstrecken wollte. »Detective Rhyme.«
Sellitto stellte sie Polling und Haumann vor. Die beiden kannte sie, wenn auch nur vom Hörensagen, und mit einemmal wirkte sie wieder wachsam.
Sie musterte das Zimmer, den Staub, die Düsternis. Blickte zu einem der Poster. Halb aufgerollt lag es unter einem Tisch. Night-hawks von Edward Hopper. Einsame Menschen spätnachts in einer Kneipe. Dieses Bild war zuallerletzt abgenommen worden.
Rhyme erklärte ihr in aller Kürze, weshalb sie nur bis fünfzehn Uhr Zeit hätten. Sachs nickte ruhig, aber Rhyme sah ihr eine leichte Gefühlsregung an. Was war es? Angst? Abscheu?
Jerry Banks, der einen Schulring trug, nicht aber einen Ehering, erlag augenblicklich ihrer strahlenden Schönheit und schenkte ihr ein ganz besonderes Lächeln. Der Blick, mit dem Sachs darauf reagierte, stellte klar, daß da nichts lief.
»Vielleicht ist es eine Falle«, sagte Polling. »Wir finden die Stelle, zu der er uns locken will, gehen rein, und dann ist da eine Bombe.«
»Das bezweifle ich«, sagte Sellitto achselzuckend. »Warum sollte er sich die Mühe machen? Wenn man Polizisten umbringen will, sucht man sich einfach einen und knallt ihn ab.«
Einen Moment lang herrschte betretenes Schweigen. Polling blickte rasch von Sellitto zu Rhyme. Allen war bewußt, daß Rhymes Unfall im Zuge der Ermittlungen im Fall Shepherd passiert war.
Aber Rhyme scherte sich nicht um den Ausrutscher. »Ich stimme Lon zu«, fuhr er fort. »Aber ich würde trotzdem sämtliche Fahndungs-, Observierungs- und Einsatzkräfte darauf hinweisen, daß sie auf Nummer Sicher gehen sollen. Unser Mann hält sich nicht an irgendwelche Regeln.«
Sachs schaute wieder auf das Hopper-Poster. Rhyme folgte ihrem Blick. Vielleicht waren die Menschen in der Kneipe gar nicht einsam. Eigentlich wirkten sie recht zufrieden.
»Wir haben es mit zweierlei Spuren zu tun«, fuhr Rhyme fort. »Zum einen das Übliche. Die Spuren, die der Täter nicht hinterlassen wollte. Haare, Fasern, Fingerabdrücke, möglicherweise Blut, Fußspuren. Wenn wir genug davon finden können - und wenn wir Glück haben -, führt uns das zum eigentlichen Tatort. Seinem Aufenthaltsort.«
»Beziehungsweise seinem Unterschlupf«, versetzte Sellitto. »Wo er sich zeitweise aufhält.«
»Ein sicherer Unterschlupf?« Rhyme nickte nachdenklich. »Ich wette, du hast recht, Lon. Er braucht eine feste Bleibe, von der aus er zuschlagen kann. Und darüber hinaus haben wir es mit absichtlich hinterlassenen Spuren zu tun«, fuhr er fort. »Neben den Papierschnipseln - die uns den Tag und den genauen Zeitpunkt mitteilen sollen - haben wir die Schraube, das Asbestfaserknäuel und den Sand.«
»Eine scheißverfluchte Fahndungsaktion«, grummelte Haumann und fuhr sich mit der Hand durch die stromlinienförmige Frisur. Er sah aus wie ein Spieß beim Strafexerzieren - und genau das war er auch, soweit Rhyme sich entsinnen konnte.
»Dann kann ich den hohen Herren also mitteilen, daß wir das Opfer möglicherweise rechtzeitig kriegen?« fragte Polling.
»Ja, ich glaube schon.«
Der Captain zückte sein Telefon und verzog sich, während er sprach, in die andere Ecke des Zimmers. »Der Bürgermeister«, knurrte er, nachdem er die Verbindung unterbrochen hatte. »Der Chef war bei ihm. In 'ner Stunde gibt's 'ne Pressekonferenz, und ich muß hin und dafür sorgen, daß sie nicht in irgendwelche Fettnäpfchen treten und in keine Klemmen geraten. Gibt's noch irgendwas, was ich den hohen Herren erzählen kann?«
Sellitto warf einen Blick zu Rhyme, der den Kopf schüttelte.
»Noch nicht«, sagte der Detective.
Polling gab Sellitto eine Handy-Nummer und ging. Er trabte buchstäblich davon.
Wenig später stapfte ein dürrer Mann, etwa Mitte Dreißig und mit schütterem Haar, die Treppe herauf. Mel Cooper sah so unbedarft aus wie eh und je - der zerstreute Professor von nebenan, wie man ihn aus jeder Fernsehserie kennt. Zwei jüngere Polizisten, die einen Übersee- und zwei offenbar tonnenschwere
Weitere Kostenlose Bücher