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Der Knochenjäger

Titel: Der Knochenjäger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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Auge.
    T. J. Colfax, die dunkelhaarige, pfeilgeschwinde Devisenhändlerin, die einst aus dem Bergland im Osten von Tennessee geflüchtet war und an der New York University ihr Wirtschaftsdiplom erworben hatte, war soeben aus einem tiefen Traum erwacht. Die zerzausten Haare klebten an ihren Wangen, Schweißbäche rannen ihr über Gesicht, Hals und Brust.
    Sie stellte fest, daß sie direkt in das schwarze Auge blickte - ein Loch in einem rostigen Rohr, rund fünfzehn Zentimeter Durchmesser, dessen Abdeckplatte entfernt worden war.
    Sie atmete die modrige Luft durch die Nase ein - ihr Mund war nach wie vor zugeklebt. Schmeckte nach Plastik, scharfem Kleister. Bitter.
    Und John? fragte sie sich. Wo war er? Sie weigerte sich, an den lauten Knall zu denken, den sie letzte Nacht in dem Kellerraum gehört hatte. Sie war im Osten von Tennessee aufgewachsen und wußte, wie Schüsse klangen.
    Bitte, betete sie um ihren Chef. Mach, daß mit ihm alles in Ordnung ist.
    Bleib ruhig, herrschte sie sich an. Denk dran, was passiert ist, bevor du wieder anfängst zu weinen. Nach dem Schuß in dem Kellerraum war sie zusammengebrochen, hatte völlig die Beherrschung verloren, vor lauter Panik losgeheult und wäre beinahe erstickt.
    Genau. Ganz ruhig.
    Schau auf das schwarze Auge an dem Rohr. Tu so, als ob es dir zuzwinkert. Das Auge deines Schutzengels.
    T. J. saß am Boden, umgeben von zahllosen Rohren und Leitungen, einem Wirrwarr aus Drähten und Kabeln. Ihr war heißer als im Imbiß ihres Bruders, heißer als vor zehn Jahren auf dem Rücksitz von Jule Whelans Nova. Wasser tropfte herab, Stalaktiten hingen von den alten Trägern über ihr. Eine Handvoll kleiner gelber Glühbirnen waren die einzige Lichtquelle. Über ihrem Kopf - unmittelbar darüber - befand sich ein Schild. Sie konnte es nicht genau lesen, sah aber den roten Rand. Und das dicke Ausrufungszeichen am Ende der Mitteilung.
    Sie zerrte einmal mehr an den Handschellen, doch sie saßen fest, schnitten ihr in die Gelenke. Ein verzweifelter Aufschrei drang aus ihrer Kehle, ein tierischer Laut. Doch das dicke Klebeband und das ununterbrochene Mahlen irgendwelcher Maschinen schluckten jeden Laut - niemand konnte sie hören.
    Das schwarze Auge starrte sie fortwährend an. Du wirst mich retten, nicht wahr? dachte sie.
    Plötzlich drang ein dröhnender Schlag durch die Stille, ein entferntes eisernes Scheppern. Wie wenn eine Schiffsluke zugeschlagen wird. Das Geräusch kam aus dem Rohr. Aus dem freundlichen Auge.
    Sie zerrte an den Handschellen, mit denen sie an das Rohr gekettet war, und versuchte aufzustehen. Doch sie konnte sich lediglich ein paar Zentimeter bewegen.
    Na schön, nur keine Panik. Du kommst heil hier raus.
    Dann sah sie zufällig das Schild über ihrem Kopf. Beim Versuch, sich etwas Bewegungsfreiheit zu verschaffen, hatte sie sich ein Stück aufgerichtet und den Kopf etwas zur Seite gedreht. Dadurch hatte sie die Aufschrift schräg vor sich im Blick.
    O nein. Lieber Herr im Himmel...
    Wieder flossen die Tränen.
    Sie mußte an ihre Mutter denken, an ihr rundliches Gesicht, die nach hinten gekämmten Haare, das kornblumenblaue Kleid, das sie trug, und sie meinte zu hören, wie sie ihr zuflüsterte: »Wird schon alles gut, mein Schatz. Keine Sorge.«
    Aber sie glaubte nicht daran.
    Sie glaubte das, was auf dem Schild stand.
    Achtung! Lebensgefahr! Dampfleitung steht unter Hochdruck. Abdeckplatte auf dem Rohr nicht entfernen! Vor dem Öffnen Consolidated Edison anrufen. Achtung! Lebensgefahr!
    Das schwarze Auge gaffte sie an, das Auge, das mitten hinein in das Dampfrohr führte. Es starrte genau auf das rosige Fleisch ihrer Brust. Irgendwo tief in der Rohrleitung ertönte wieder ein metallisches Scheppern. Offenbar waren irgendwo Arbeiter am Werk, die alte Schellen festzogen.
    Als Tammie Jean Colfax hemmungslos losweinte, hörte sie erneut das Scheppern. Dann ein dumpfes Rauschen, ganz schwach. Und durch die Tränen kam es ihr vor, als zwinkerte ihr das schwarze Auge endlich zu.
     
     
    FÜNF
    »Die Lage sieht folgendermaßen aus«, verkündete Rhyme. »Wir haben es mit einer Entführung zu tun, und das Opfer wird um fünfzehn Uhr sterben.«
    »Keinerlei Lösegeldforderung«, ergänzte Sellitto Rhymes Zusammenfassung, drehte sich dann zur Seite, nahm das piepsende Telefon zur Hand und meldete sich.
    »Jerry«, sagte Rhyme zu Banks, »berichten Sie ihnen über den Tatort von heute morgen.«
    In Lincoln Rhymes dunklem Zimmer tummelten sich so viele Menschen wie schon

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