Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
Staates Tennessee tätig, eine Stellung, durch die ich mit interessanten gerichtsmedizinischen Fällen in nahezu allen 59 Kreisen unseres Bundesstaates in Berührung gekommen war. Zu lokalen Polizeibehörden, Staatsanwälten, der Kriminalpolizei des Bundesstaates und dem FBI unterhielt ich enge Beziehungen. Häufig hielt ich Vorträge vor Gruppen medizinischer Sachverständiger, vor Ärzten und Zahnärzten, Polizisten und Bestattungsunternehmern. Mehrmals im Jahr sagte ich als Sachverständiger vor Gericht aus; hin und wieder schaffte ich es auch bis in die Zeitung oder ins Fernsehen, insbesondere wenn ich an einem besonders grausigen Fall arbeitete oder wenn ich eine berufliche Auszeichnung erhalten hatte wie beispielsweise 1985, als das Council for the Advancement and Support of Education mich mit der Ernennung zum »Professor des Jahres« ehrte. Alles in allem glaubte ich, mein Leben könne überhaupt nicht ausgefüllter und spannender sein.
Aber da hatte ich mich gründlich geirrt. Ein kurzer Anruf, und alles wurde so hektisch, wie ich es mir in meinen wildesten Träumen nicht ausgemalt hätte. Schon seit etlichen Jahren hielt ich im ganzen Land Vorträge auf forensischen Fachtagungen. Bei einer solchen Konferenz lernte ich Dr. Marcella Fierro kennen, die junge Assistentin eines medizinischen Sachverständigen aus Virginia. Nachdem wir uns im Laufe der Jahre auf vielen Tagungen wiedergesehen hatten, wurden wir gute Freunde. Schließlich wurde Dr. Fierro die leitende medizinische Sachverständige des Staates Virginia, und nun lud sie mich einmal im Jahr zu Vorträgen für ihre Mitarbeiter ein, um deren Horizont zu erweitern oder auch einfach nur ihren Magen abzuhärten.
Die meisten medizinischen Sachverständigen waren forensische Pathologen - Ärzte, die sich auf Krankheiten oder Verletzungen des Gewebes spezialisiert hatten. Wenn sie die Gelegenheit haben, eine Leiche wenige Stunden oder auch ein paar Tage nach dem Tod zu obduzieren, gelingt es ihnen häufig bemerkenswert gut, Todeszeitpunkt und Todesursache festzustellen. Ist die Verwesung dagegen schon relativ weit fortgeschritten, wird die Obduktion schwierig. Bakterientätigkeit, chemische Veränderungen in den Zellen (ein als Autolyse bezeichneter Wechsel des pH-Wertes) und fressende Maden sorgen gemeinsam dafür, dass das weiche Gewebe sich verflüssigt, und damit verschwinden auch die Anhaltspunkte, nach denen ein Pathologe sucht, beispielsweise Fleischwunden. Sind an den Knochen aber Messerspuren oder andere Verletzungen zu erkennen, kann ein erfahrener forensischer Anthropologe aus dem Skelett häufig auch dann noch verblüffend vielfältige Erkenntnisse gewinnen, wenn eine Obduktion schon lange nicht mehr möglich ist.
Im Jahr 1984 kam eine junge Fachautorin in das Team von Dr. Fierro in Richmond. Die frühere Gerichtsreporterin war eindeutig hochintelligent, sehr wortgewandt und fasziniert von forensischen Ermittlungen. Außerdem war sie eine viel versprechende Krimiautorin. Nachdem sie sechs Jahre in Dr. Fierros Behörde gearbeitet hatte, verkaufte sie ihr erstes Romanmanuskript.
Die junge Frau hieß Patricia Cornwell, und der Roman mit dem Titel Postmortem (deutsch Ein Fall für Kay Scarpetta ) verhalf ihr als höchst talentierter Schriftstellerin zum Durchbruch. Er wurde im ersten Jahr nach dem Erscheinen mit fünf internationalen Preisen ausgezeichnet und ist damit bis heute der einzige derart hoch dekorierte Kriminalroman. Postmortem war nicht nur Patricia Cornwells Erstlingswerk, sondern sie stellte darin auch ihre Hauptfigur vor, die medizinische Sachverständige Kay Scarpetta aus Virginia, eine nach außen harte, innerlich aber sanfte und verletztliche Frau. Was die berufliche Seite anging, bezog Cornwell die Anregung nach meiner Vermutung von Dr. Marcella Fierro, während sie mit den privaten Aspekten wohl eher sich selbst zeichnete. Jedenfalls wurde Scarpetta schnell zu einer charismatischen Gestalt der Kriminalliteratur. Das Gleiche gilt auch für Patricia Cornwell.
Ich lernte die Schriftstellerin auf einem der alljährlichen Weiterbildungsseminare von Dr. Fierro kennen. Damals arbeitete sie noch in der Behörde der medizinischen Sachverständigen. Wie gewöhnlich zeigte ich Dias von madenbedeckten Leichen. Nach dem Vortrag stellte Patricia Cornwell sich vor, erkundigte sich ausführlich nach meinen Forschungsarbeiten und machte mir Komplimente wegen meines Vortrages. Das war es dann - oder jedenfalls glaubte ich das.
Im Sommer 1993
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