Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
unendlich viel mehr Einzelheiten beobachten, unendlich viel mehr Indizien gewinnen kann.
In den nächsten beiden Jahren kaufte oder lieh sich Steve Sägen aller Typen, deren er habhaft werden konnte: Brettsägen, Schrotsägen, Bügelsägen, Laubsägen, Metallsägen, Kreissägen, Kappsägen, japanische Zugsägen und viele andere. An mehreren Wochenenden war er bei Dr. Cleland Blake zu Besuch, einem medizinischen Sachverständigen im Osten von Tennessee, der auch ein meisterhafter Schreiner war; die beiden studierten Hunderte von Sägeblättern aus Clelands Sammlung, von Goldschmiedesägen bis zu den Kettensägen der Holzfäller.
Dann befestigte Steve gespendete Arm- und Beinknochen mit Schraubstöcken auf seinem Arbeitstisch, machte Tausende von Versuchsschnitten und studierte sie im Mikroskop. Anfangs sah er kaum etwas, das ihm bedeutsam erschien. Aber am Ende fand er den Schlüssel zum Erfolg. Als er die Schnitte mit einem chirurgischen Operationsmikroskop betrachtete und das Licht schräg auf die Schnittflächen fallen ließ, entfaltete sich vor seinen Augen eine ganze Welt der dreidimensionalen Details: riesige Schluchten und zerklüftete Klippen, in Knochen geschnitzt. Er machte unzählige Mikrofotos, Gipsabgüsse und Messungen, katalogisierte gezogene und geschobene Schnitte, misslungene Versuche, Spuren abgerutschter Sägen und zögernder Vorgehensweise sowie viele andere charakteristische Spuren, die eine Säge zurücklassen kann, wenn sie durch einen Knochen schneidet.
Ich werde nie vergessen, wie Steve mich zum ersten Mal in sein Labor zerrte, mich zu einem Stereomikroskop führte und mir Zug um Zug die Entstehung der Sägespuren vorführte, die ein festgeschraubter und bereits zersägter Oberschenkelknochen aufwies. In den Querschnitt des Knochens - und jetzt auch in meiner Erinnerung - waren unauslöschlich die zickzackförmigen Schnittspuren eingeprägt, zurückgelassen von den einzelnen Zähnen der Säge, als sie sich unbarmherzig als Reihe flacher, Z-förmiger Spuren durch den Knochen arbeiteten. In diesem Augenblick war ich stolz und gleichzeitig auch demütig: Der Student - mein Student - hatte seinen Lehrer übertroffen, zumindest auf diesem makabren Spezialgebiet.
Wenn Steve am Ende ein Knochenbruchstück aus einem Mordfall vor sich hatte, sah er daran viel mehr als nur »die Kerbe einer Säge in einem Armknochen«. Er konnte beispielsweise die Spuren einer Schrotsäge mit zehn Zähnen pro Zoll und einer Schnitttiefe von zwei Millimetern erkennen, die von abwechselnd angeschrägten Sägezähnen herrührte und durch den Knochen geschoben worden war - wobei der Schnitt von drei Abrutschern, zwei Fehlversuchen und einer kurzen Pause unterbrochen war. Ein Ehemann, der seine Frau zersägt, will solche aufschlussreichen Spuren ebenso wenig hinterlassen wie ein Berufskiller, dessen Kugeln ballistische Anhaltspunkte bieten. Es ist einfach eine unvermeidliche Folge.
Steve konnte sich nie überwinden, seine nützliche, langweilige Doktorarbeit über die Verbindung von Schlüsselbein und Brustbein zu vollenden. Stattdessen verfasste er den Aufsatz Morphology of Saw Marks in Human Bone: Identification of Class Characteristics (»Struktur von Sägespuren in menschlichen Knochen: Identifizierung von Gruppenmerkmalen«), der trotz des trockenen Titels zu einem einzigartigen, wegweisenden Beitrag zur forensischen Anthropologie und der Untersuchung von Mordfällen wurde.
Nicht lange nachdem Steve mit den Forschungsarbeiten an den Sägespuren begonnen hatte, zog er wieder nach Westen, dieses Mal nach Memphis. Es sprach sich herum, welch grausiges Spezialgebiet er sich ausgesucht hatte; immer häufiger trafen aus anderen Städten und Bundesstaaten, ja sogar aus dem Ausland Pakete mit zerstückelten Leichenteilen ein. Polizeibehörden oder Staatsanwälte schickten sie an Steve, wenn sie keine andere Möglichkeit sahen, mit ihrer Suche nach einem Mörder oder einer Mordwaffe voranzukommen. Sein sensationellster Fall begann am 6. April 1992; an diesem Tag fragte der kanadische Polizeibeamte Mike Kershaw bei Steve an, ob er ihm bei der Aufklärung eines grausigen Mordes helfen könne. Das Verbrechen hatte sich im Juli des vorangegangenen Jahres in Saint Catherines ereignet, einer mittelgroßen Stadt, die gegenüber von Toronto auf der anderen Seite des Ontario-Sees liegt.
Leslie Mahaffey, ein 14-jähriges Mädchen aus Saint Catherines, war eines Abends lange mit Freundinnen unterwegs gewesen und hatte ihren
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