Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
solchen Menschen haben Sie noch nie gesehen«, begann ein Zeitungsbericht, »und vermutlich ist Ihnen das auch ganz recht so.« Weiter hieß es in dem Artikel: »Soweit er selbst weiß, hat er auf der ganzen Welt als Einziger seinen Doktor damit gemacht, dass er anhand der Knochen unterscheiden kann, mit welchem Werkzeug eine Leiche zerstückelt wurde.<
Als Steve von dem befrackten Kronanwalt in den Zeugenstand gerufen wurde, zeichnete er ein genaues, erschreckendes Bild davon, wie man Leslie Mahaffey zerstückelt hatte. Die Schnittbreite - die Breite der Rillen, die das Sägeblatt verursacht hatte - war bei Leslies Knochen ungewöhnlich gering und wies auf ein dünnes Sägeblatt hin. Die meisten karbidbeschichteten Kreissägeblätter hinterlassen eine Kerbe von 3,1 Millimetern; die Schneide, mit der man Leslies Leiche zerlegt hatte, war mit 2,0 bis 2,3 Millimetern deutlich dünner. In seinen eigenen Versuchen hatte Steve Kreissägeblätter von 18 bis 30 Zentimetern Durchmesser verwendet und dabei festgestellt, dass die Schnitte einheitlicher waren und weniger schwankten als die an Leslies Knochen. Allerdings hatte Steve dabei gegenüber dem Mörder auch einen Vorteil gehabt: Er arbeitete mit sauberen, trockenen Knochen ohne anhaftendes Fleisch, die stramm in einem Schraubstock verankert waren.
Im Kreuzverhör stellte Paul Bernardos Anwalt nur eine Frage: Ob das Zerstückeln einer Leiche mit einer Kreissäge eine blutige Angelegenheit sei? Eine sehr blutige, erwiderte Steve. Die Zuhörer im Gerichtssaal waren über Steves Aussage entsetzt, aber der Schrecken wurde durch seine Redeweise ein wenig gemildert - ein Reporter berichtete über seine »unbefangene amerikanische Art und eine bescheidene Traurigkeit«. Bescheiden, das stimmt: Steve ist einer der fünf weltweit führenden Experten für Werkzeugspuren an menschlichen Knochen, aber gleichzeitig ist er bemerkenswert zurückhaltend und uneitel.
Als Paul Bernardo in den Zeugenstand gerufen wurde, leugnete er den Mord an Leslie Mahaffey; er behauptete, sie und Kristen French seien durch einen Unfall gestorben, und er sei zu diesem Zeitpunkt nicht im Zimmer gewesen. Dass er Leslie zerstückelt hatte, gestand er aber. Er sagte, er habe die Leiche mit einer alten McGraw-Edison-Säge zerlegt - mit der Kreissäge, die Steve beschrieben hatte. Bernardo hatte die Maschine von seinem Großvater geschenkt bekommen, und man hatte sie sogar im Keller seines reinlichen Bungalows in einer Vorstadt von Saint Catherines gefunden. Pech für die Anklage: Das Sägeblatt und Teile des Gehäuses fehlten.
Steve reiste am Tag nach seiner Aussage aus Toronto ab; er hoffte, dass er etwas Nützliches beigetragen hatte, aber Geschworene sind unberechenbar. Man weiß nie genau, was bei ihnen den größten Eindruck hinterlässt. Der Prozess gegen Bernardo zog sich den ganzen Juni, den Juli und bis in den August hin. Als er sich dem Ende näherte, machte er durch eine dramatische Wendung neue Schlagzeilen: Der Kronanwalt präsentierte am Ende seines Plädoyers ein verrostetes Sägeblatt, das die Polizei erst wenige Tage zuvor aus dem See gefischt hatte. Außer der Schneide hatte der Taucher auch Teile eines Maschinengehäuses gefunden. Sägeblatt und Gehäuse passten genau zu Bernardos alter McGraw-Edison-Säge. Außerdem entsprach die Schneide bis aufs i-Tüpfelchen Steves Analyse der Schnittspuren: Kreissägeblatt, Durchmesser 18 Zentimeter, dünner und mit feineren Zähnen als die meisten heutigen karbidbeschichteten Blätter und genau mit der richtigen Dicke für Schnitte von 2,0 Millimetern.
Paul Bernardo wurde des Mordes in zwei Fällen für schuldig befunden und zu 25 Jahren Gefängnis ohne die Möglichkeit vorzeitiger Entlassung verurteilt. Wie man mir erzählt hat, erhält er regelmäßig Fanpost und Anrufe von jungen Mädchen. Über die Knochen des Menschen weiß ich eine Menge, und Steve Symes auch. Aber vieles andere, was in den dunklen Tiefen des menschlichen Herzens verborgen ist, werden wir nie begreifen.
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Der Tod als Vorbild für die Kunst
I m Jahr 1993 war ich schon seit über 20 Jahren Leiter des anthropologischen Instituts an der University of Tennessee. Ich hatte dazu beigetragen, dass in der American Academy of Forensic Sciences (AAFS) eine Sektion für forensische Anthropologie gegründet wurde, ein wichtiger Meilenstein in der Entwicklung unseres faszinierenden neuen Fachgebietes. Außerdem war ich mittlerweile im 22. Jahr als forensischer Anthropologe des
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