Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
Göttergestalten schaffen...«
Der liebende Vater: Dieses Bild von Gott hatte ich für mich zwar nicht mit den Händen, wohl aber mit dem Herzen gezeichnet. So sollte Gott sein, das wollte und brauchte ich, seit vor 65 Jahren jener Schuss im Büro meines Vaters gefallen war. Aber hätte ein allmächtiger, allgütiger himmlischer Vater zulassen können, dass der Krebs mir zwei großartige Frauen raubt? Ann war Ernährungswissenschaftlerin gewesen; sie hatte sich nicht nur selbst gesund ernährt, sondern es auch vielen tausend anderen beigebracht, und doch hatte der Krebs ihre Verdauungsorgane befallen. Annette war an Lungenkrebs gestorben, obwohl sie nie geraucht hatte; ihre einzige medizinische Sünde hatte darin bestanden, dass sie 30 Jahre lang mit einem starken Raucher verheiratet gewesen war.
Vielleicht reduzierte sich letztlich alles auf Chemie und Genetik: Ann und Annette besaßen einfach nicht genügend physiologische oder genetische Widerstandskraft gegenüber den Krebs erregenden Einflüssen, von denen unsere Welt voll ist. Manche Menschen sind dagegen gefeit; diese beiden Frauen waren es nicht. Vielleicht war das der kalte, objektive Grund, warum sie gestorben waren.
Ann hatte einen langsamen, quälenden Tod erlitten, und schon bevor alles vorüber war, hatte ich begonnen, mich damit auseinander zu setzen. Bei Annette kam er schnell und plötzlich, und das nur zwei Monate nach dem Tod meiner Mutter, die mir während meines ganzen Lebens sehr nahe gestanden hatte. Die Trauer hatte ein ungeheures Gewicht. Ich fürchtete mich davor, mein leeres Haus zu betreten. Ohne Vorwarnung fing ich an zu schluchzen und konnte nicht aufhören. Diese Monate gehörten zu den düstersten meines Lebens.
Das Einzige, wofür es sich noch zu leben lohnte, war meine Arbeit. Fälle wie dieser: ein Mann wird verdächtigt, seine eigene Ehefrau getötet, zerstückelt und verbrannt zu haben. Die Welt, so schien es, war voller Übeltäter.
Am nächsten Tag gingen wir im Knochenlabor im Untergeschoss des Stadions daran, die Knochenstücke zusammenzusetzen wie ein verkohltes Puzzlespiel. Ich hatte die Hoffnung, dass wir nicht nur das Skelett rekonstruieren konnten, sondern auch die Geschichte über den Tod dieser Person - vermutlich die Geschichte über den Tod von Patty Rogers.
Eines wusste ich bereits: Die Geschichte würde im besten Fall in Bruchstücken ans Licht kommen - so wie das Skelett. Am Fundort hatten wir Fragmente von praktisch allen Knochen entdeckt, allerdings mit einer bemerkenswerten Ausnahme: Von einem Stück Wangenknochen abgesehen, fehlte das gesamte Gesicht einschließlich der Zähne. Zähne sind sehr widerstandsfähig - sie überstehen häufig sogar die Einäscherung in einem richtigen Krematorium; dass sie ebenso wie sämtliche Gesichtsknochen fehlten, war für mich ein Hinweis, dass man diese Teile des Schädels sorgfältig entfernt hatte, um die Identifizierung des Opfers unmöglich zu machen. Dass sie tatsächlich unmöglich war, mochte ich noch nicht eingestehen, aber zumindest würde es nicht einfach werden.
Wie bei allen derartigen Fällen bestimmten wir zunächst Geschlecht, Alter und Körpergröße. Da der rassentypische Bau des Gesichts nicht festzustellen war und da wir außerdem keinen einzigen langen Knochen in unversehrter Form besaßen - eigentlich sogar überhaupt keinen unversehrten Knochen -, war mir klar, dass wir über Rasse und Körpergröße keine definitive Aussage machen konnten. Geschlecht und Alter jedoch ließen sich wahrscheinlich aus dem vorhandenen Material ableiten.
Glücklicherweise war an einem Hüftknochen die Sitzbeinkerbe zu erkennen. Diese Öffnung - durch sie verläuft der Ischiasnerv, der aus der Wirbelsäule austritt und sich dann ins Bein zieht - ist bei Frauen deutlich breiter, weil auch das Hüftbein darüber eine weitere Ausladung hat. Bei einem erwachsenen Mann ist die Sitzbeinkerbe gerade so groß, dass eine Fingerspitze hineinpasst; bei erwachsenen Frauen bietet sie doppelt bis dreimal so viel Platz. Bei dieser Leiche, Nummer 97-23, war die Kerbe breit - es handelte sich also eindeutig um eine Frau. Nachdem diese Frage beantwortet war, stellte sich die nächste: Wie alt war sie?
Zu einer zuverlässigen Altersschätzung gelangt man häufig am besten, wenn man Bau und Oberflächenbeschaffenheit des Schambeins untersucht, aber dessen Merkmale waren in diesem Fall vom Feuer zerstört worden. Also mussten wir an anderen Stellen nach alterstypischen Kennzeichen
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