Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
suchen. Die Knochen waren zwar vielfach zerbrochen und zerstückelt, aber glücklicherweise waren die Epiphysen - die Stellen, an denen die Knochenenden mit dem Schaft verwachsen - noch relativ intakt, und an ihnen kann man ebenfalls eine Menge über das Alter ablesen. Ein gutes Beispiel war der Oberschenkelknochen, der mir in Matt Rogers’ Brandfass als Erstes aufgefallen war. Es mag sich seltsam anhören, aber dieser Oberschenkelknochen hatte noch im 15. Lebensjahr aus fünf getrennten Knochenstücken bestanden, die an den Epiphysen von Knorpel zusammengehalten wurden.
Von den fünf Teilen eines unausgereiften Oberschenkelknochens ist der Hauptschaft am auffälligsten. An seinem oberen Ende, an der proximalen Epiphyse, setzt der Femurkopf an, die Kugel, die in der Gelenkpfanne des Hüftgelenks liegt. An dem Femurkopf in Matt Rogers’ Brandfass war mein Blick am Tag zuvor als Erstes hängen geblieben. Unter dem Femurkopf liegt der große Trochanter; dieser auffällige Knochenhöcker ragt im Oberschenkel unmittelbar an der Stelle, wo das Bein in den Rumpf übergeht, nach außen. Genau gegenüber, an der Innenseite des Schaftes, befindet sich der kleine Trochanter, ein wesentlich bescheidenerer Knochenvorsprung. Am unteren oder distalen Ende des Oberschenkelknochens schließlich findet man die Kondylen, die den oberen Teil des Kniegelenks bilden.
Anhand der Epiphysen kann man die Altersschätzung näher eingrenzen. Sie verknöchern in unterschiedlichem Alter. Am Oberschenkel verwandelt sich der Knorpel der distalen Epiphyse über dem Knie zuletzt in Knochen; diese Verbindungsstelle hat sich bei manchen Menschen selbst mit 22 Jahren noch nicht vollständig geschlossen. Bei unserer verbrannten Frau waren die distalen Epiphysen völlig verknöchert, das heißt, sie war mindestens 22.
Konnten wir das Alter noch weiter eingrenzen? Die Schamfuge war zwar schwer beschädigt, aber glücklicherweise hatten andere Alterskennzeichen am Hüftbein das Feuer überstanden. Die Oberfläche des Darmbeins (des breiten, ohrförmigen oberen Teils des Hüftbeins) hatte eine feinkörnige Struktur. Außerdem war an der Verbindungsstelle von Darm- und Kreuzbein eine gut abgegrenzte Leiste zu erkennen. Daraus konnte ich entnehmen, dass ihr Alter vermutlich zwischen 25 und 35 lag. Bisher hatte ich also nichts gefunden, was bewiesen hätte, dass diese Frau nicht die weiße, 27-jährige, weibliche Patty Rogers war.
Von Anfang an waren wir alle davon ausgegangen, dass wir hier die Überreste von Patty Rogers vor uns hatten, aber ich habe im Laufe der Jahre gelernt, dass solche Unterstellungen häufig die Gedanken vernebeln, was zu wissenschaftlichen Fehlern und persönlichen Peinlichkeiten führen kann. Das musste ich auf unangenehme Weise im Fall des Colonel Shy erfahren: Beim Todeszeitpunkt dieses Offiziers aus dem Bürgerkrieg verschätzte ich mich bekanntermaßen um fast 113 Jahre - was übrigens mein persönlicher Ungenauigkeitsrekord ist. Außerdem habe ich in mehreren Fällen erlebt, dass die Identität der Leiche für die Mordermittler eine große Überraschung war.
Einmal verschwand beispielsweise in der Kleinstadt Wartburg im Kreis Morgan ein bekannter örtlicher Bauunternehmer. Wenn in den folgenden Jahren irgendwo Knochen gefunden wurden, nahm die Polizei jedes Mal an, sie hätten den Vermissten endlich gefunden. Insbesondere einmal waren sie überrascht, als ich ihnen mitteilte, ihr neuester Fund sei nicht der Bauunternehmer mittleren Alters, sondern eine junge Frau von 18 Jahren.
Deshalb war ich auch bemüht, mir meine Aufgeschlossenheit zu bewahren, als wir an den zerstückelten Knochen von 97-23 nach Anhaltspunkten suchten. Dass sich Pessimismus breit machte, war dennoch kaum zu verhindern. Kein einziger Knochen war unversehrt, der größte Teil des Schädels fehlte völlig, und alles war zu einer spröden Masse verbrannt. Halt, falsch: fast alles. Ein paar Wirbel hatten am Boden des Fasses gelegen und waren weit gehend unbeschädigt geblieben, ebenso ein Stück des Scheitelbeins vom oberen rechten Teil des Schädels. Der Schädelknochen war wie alle anderen Funde zerbrochen, aber im Gegensatz zu den anderen zerstückelten Knochen waren die Bruchlinien hier nicht verbrannt. Der Bruch war weder durch die Hitze des Feuers noch durch den Druck der verdampfenden Flüssigkeit im Schädelinneren entstanden, sondern der Schädel war durch irgendetwas anderes - durch äußere Gewalteinwirkung - ungefähr zum Zeitpunkt des Todes
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